Der Bundestrainer hat es geschafft, die Nationalmannschaft in kürzester Zeit zu einer Einheit zu formen.
Kommentar zum Erreichen des ViertelfinalesGlücksfall Julian Nagelsmann
Trainer im Klubfußball werden überschätzt. Wer seine Mannschaft täglich beisammen hat und Woche für Woche dem Wettbewerb aussetzt, wird eher früher als später die Auswirkungen seiner Arbeit sehen. Irgendwann sitzt die Spielidee, greifen Automatismen. Weiß jeder, was er zu tun hat.
Allerdings ist der Klubfußball im Hochleistungsbereich in einer Weise kompliziert geworden, dass die Spieler wachsende Schwierigkeiten offenbaren, ihre Qualitäten aus den Vereinen in die Nationalmannschaften zu übertragen. Ein gutes Beispiel dafür ist Manchester City: Pep Guardiola hat dort mit einigen der besten Spieler der Welt über Jahre einen Fußball etabliert, der auf dem Niveau der Premier League sagenhaft erfolgreich, aber auch unvorstellbar komplex ist. Wenn İlkay Gündoğan in seinen Guardiola-Jahren zur Nationalmannschaft reiste, schien es regelmäßig, als habe er einen untalentierten Bruder geschickt. Nichts funktionierte.
Dass der Qualitätsverlust derart drastisch ausfiel, lag neben dem grundsätzlichen Unterschied zwischen Klub- und Nationalmannschaft auch am Gefälle zwischen den jeweiligen Trainern. Da hat Guardiola in den vergangenen Jahren viele Kollegen schlecht aussehen lassen, wenn die versuchten, unter der Zeitnot einer Nationalmannschaft eine gemeinsame Idee zu etablieren. Eine Mannschaft zu trainieren, ohne sie bei sich zu haben – das ist die gewaltige Herausforderung eines jeden Auswahltrainers.
Nagelsmann hält das Niveau seiner prominenten Klub-Kollegen
Der heißt im Falle der deutschen Elf Julian Nagelsmann, und seine Spitzenspieler trainieren im Klub unter Größen wie Carlo Ancelotti, Xabi Alonso – und, ja: Thomas Tuchel. Doch scheint der Bundestrainer keine Schwierigkeiten zu haben, das Niveau seiner Kollegen zu halten. Im Gegenteil reiht sich die DFB-Auswahl bei diesem Turnier in die Gruppe der Teams ein, deren starke Leistungen vor allem durch die Arbeit ihrer Trainer erklärbar sind. Ralf Rangnick mit seinen Österreichern ist derzeit das womöglich spektakulärste Beispiel dafür.
Offenbar hat der Trainer Nagelsmann die viele Zeit, in der er seine Mannschaft in Abwesenheit trainieren muss, mit der Entwicklung einer Spielidee verbracht, die simpel genug ist, um sie rasch vermitteln zu können. Und dennoch effektiv genug, um erfolgreich spielen zu können. Dass Abläufe und Grundprinzipien des deutschen Spiels vom ersten Auftritt an klar zu erkennen waren, spricht dabei für Nagelsmanns Vermittlungskompetenz.
In Kombination mit viel individueller Klasse, dem Heimvorteil und einer Fähigkeit, aus jedem Turnierauftritt zu lernen, hat die deutsche Elf eine Stärke entwickelt, die sie bis ins Viertelfinale getragen hat. Und die ihr nun die Möglichkeit eröffnet, jedem kommenden Gegner auf Augenhöhe zu begegnen.
Im Klubfußball mag der Einfluss des Trainers begrenzt sein. Diese EM dagegen lehrt uns einmal mehr, dass es die Trainerteams sind, die im Turnierfußball ihre Stärke entfalten. So gesehen ist Julian Nagelsmann ein Glücksfall für die Nationalelf.