AboAbonnieren

Rückblick auf den DFB-KaderDas Abschlusszeugnis der deutschen Spieler bei der EM

Lesezeit 7 Minuten
Große Auftritte: Toni Kroos und Julian Nagelsmann dürften trotz der bitteren Niederlage im Viertelfinale gegen Spanien zufrieden sein mit ihren Leistungen bei der EM.

Große Auftritte: Toni Kroos und Julian Nagelsmann dürften trotz der bitteren Niederlage im Viertelfinale gegen Spanien zufrieden sein mit ihren Leistungen bei der EM.

Vor den Sommerferien gibt es Zeugnisse: Ein letzter Blick auf die Leistungen der Mannschaft von Bundestrainer Julian Nagelsmann bei der EM.

Die Tränen nach dem EM-Aus sind getrocknet, das nächste Ziel ist formuliert: In zwei Jahren will Julian Nagelsmann mit seiner Mannschaft die Weltmeisterschaft in Mexiko, Kanada und den USA gewinnen. Vorab lohnt ein letzter Blick zurück auf den EM-Kader, den der Bundestrainer bei seiner Turnierpremiere einsetzte. Es war eine gut zusammengestellte Gruppe, insgesamt offenbarte Nagelsmann bemerkenswerte Qualitäten, als er in der Stunde der vollständigen Niederlage Stärke bewies und die Last des Amtes ertrug. Als Trainer des FC Bayern hat er die größten Fußballbühnen bespielt. Doch für das Sommergefühl einer ganzen Fußballnation verantwortlich zu sein – mit dieser Bürde muss ein 36-Jähriger erst einmal zurechtkommen.

Nagelsmann wuchs mit der Aufgabe, sein Blick auf den Job beim DFB wird heute anders ausfallen als noch vor drei Wochen. Und obgleich er im Vorlauf des Viertelfinalspiels gegen Spanien einen Rückfall erlitt und seine gerade erst in den Turniermodus gespielte Achse veränderte, womit er sich zu zwei Wechseln in der Halbzeit zwang, fand er noch während der Partie die richtige Antwort. Bis auf den Frankfurter Verteidiger Robin Koch setzte der Bundestrainer alle Feldspieler ein.

Torhüter Manuel Neuer spielte trotz Debatten um Fitness und Alter eine gute EM. Nagelsmann sprach in seinem Fazit am Wochenende mit Recht von einer guten Basis für die kommenden Herausforderungen. Obgleich mehrere langjährige Nationalspieler aufhören dürften. Die deutschen EM-Spieler, sortiert nach Einsatzminuten.

Manuel Neuer, Toni Kroos und Thomas Müller waren die letzten Rio-Weltmeister im EM-Kader. Zumindest Kroos hat bereits seinen Rücktritt erklärt.

Manuel Neuer, Toni Kroos und Thomas Müller waren die letzten Rio-Weltmeister im EM-Kader. Zumindest Kroos hat bereits seinen Rücktritt erklärt.

Manuel Neuer (38 Jahre, 480 Einsatzminuten): Der Torhüter hat in seiner Karriere alles gewonnen – außer einer Europameisterschaft. Er hatte also allen Grund, auf seinen Status als Nummer 1 zu pochen, so bitter das für Marc-André ter Stegen war, den anderen deutschen Weltklassekeeper. Umgekehrt war Nagelsmann praktisch verpflichtet, einen besten Torhüter aller Zeiten einzusetzen, wenn der zur Verfügung steht. Neuer spielte wie bestellt, es war eine gute EM des Keepers.

Joshua Kimmich (29/480): Freundete sich mit der Rechtsverteidiger-Position an und spielte jede einzelne Turnierminute. Und zwar mit heiligem Ernst. Ist kein Weltklasse-Rechtsverteidiger, aber ein Sportler, der einer Turniermannschaft viel geben kann. Spielte eine hervorragende EM, wenngleich er nach wie vor auf große Erfolge mit der Nationalmannschaft warten muss.

Antonio Rüdiger (31/480): Spielt stets an der Grenze, und es war ein Wunder, dass er nach seinen frühen Gelben Karten gegen Ungarn und Spanien jeweils über die volle Distanz spielte, ohne im Zweikampf Zugeständnisse zu machen. Sein leicht über die Grenze gehender Auftritt im Achtelfinale gegen Dänemark wird in Erinnerung bleiben. Leider aber auch, dass er in der Verlängerung gegen Spanien Merino aus den Augen verlor.

Toni Kroos (34/470): Ist nach seinen Jahren mit Real Madrid eigentlich daran gewöhnt, stets in der Mannschaft zu spielen, die am Ende das Spiel gewinnt. Entsprechend unverwüstlich tritt er auf, und selbstverständlich war er nicht nur der Stammspieler mit der höchsten Passquote im deutschen Kader. Er schickte auch mit jedem seiner Pässe Botschaften an deren Empfänger, was erklärt, wie er es schafft, mit scheinbar banalen Zuspielen eine Mannschaft zu steuern. Es war ein beeindruckender Abschluss des Mittelfeldstars, wenngleich um zwei Partien zu früh.

Jamal Musiala (21/423): Wäre eine Entdeckung des Turniers gewesen, hätte er nicht schon vor einem Jahr den FC Bayern mit einer unglaublichen Einzelaktion in Köln zur Meisterschaft geschossen. Kann grundsätzlich alles. Hat Tempo, dribbelt radikal, verliert dabei allerdings viele Bälle. Doch hat er das Talent, Abwehrreihen in Panik zu versetzen. Mit drei Toren der beste Schütze der deutschen Mannschaft. Hätte der Spieler des Turniers werden können – wäre für Deutschland nicht im Viertelfinale Schluss gewesen.

Kai Havertz (25/392): Beendete die EM als kopfballstärkster Spieler des deutschen Teams. Auch am Boden stark, war seinen Kollegen in der Offensive ein herausragender Partner im Kombinationsspiel. Mit mehr Treffsicherheit und weiteren K.o.-Spielen hätte er wohl mit Musiala darum konkurriert, Spieler des Turniers zu werden. So ging er als Unerfüllter.

Ilkay Gündogan (33/386): Profitierte davon, dass Julian Nagelsmann ein hervorragender Trainer ist, daher sah der DFB-Kapitän im DFB-Trikot plötzlich beinahe so gut aus wie zu seinen Weltklasse-Zeiten unter Pep Guardiola bei Manchester City. Startete furios gegen die Schotten und signalisierte den folgenden Gegnern damit, dass er der Mann war, den es zu bekämpfen galt. Das nahmen die Gegner im weiteren Turnierverlauf gern an. Hatte stets seine Momente, stockte jedoch in den K.o.-Spielen.

Jonathan Tah (28/321): Wirkte deutlich gefasster als Nebenmann Rüdiger, wenngleich er beim 0:1 gegen die Schweiz schlecht aussah. Nach überragender Saison mit Leverkusen mit einer insgesamt souveränen EM.

Die Leverkusener Robert Andrich und Jonathan Tah konnten ihre überragende Saison nicht mit dem EM-Titel krönen.

Die Leverkusener Robert Andrich und Jonathan Tah konnten ihre überragende Saison nicht mit dem EM-Titel krönen.

Robert Andrich (29/321): Gilt nach wie vor als der Mann fürs Grobe, der er womöglich nie war, gegenwärtig aber definitiv nicht ist. Hat große Qualitäten im Passspiel und ein bemerkenswertes Raumgefühl. Dass er vor Zweikämpfen nicht zurückschreckt, macht ihn nicht zum Grobian. Startete gegen Schottland rätselhaft übermotiviert und war früh von einem Platzverweis bedroht. Sammelte sich im weiteren Turnierverlauf und hätte gegen Spanien beginnen müssen.

Maximilian Mittelstädt (27/304): In der Vorbereitung hatte Nagelsmann noch versucht, Kai Havertz zum Linksverteidiger umzuschulen. Bewies dann aber mit der Nominierung von Maximilian Mittelstädt, dass er verstanden hatte, dass es im Turnierfußball nicht um geniale Trainerideen, sondern um solides Handwerk geht. Mittelstädt ist kein Weltklassespieler, versteht aber seine Position und hatte daher einigen Wert für die deutsche Elf.

Florian Wirtz (21/281): Erzielte das erste und letzte Turniertor für die deutsche Mannschaft. Wäre dieses letzte EM-Tor zum Sieg im Finale gefallen – Wirtz wäre definitiv Spieler des Turnier gewesen. Kommt dann 2026. Oder 2028. Oder 2030. Er ist ja noch so jung.

Leroy Sané (28/207): Ist eine ständige Bedrohung für jede Abwehr. Wahnsinnig schnell, schussstark mit dem linken Fuß, trickreich. Deshalb stand er im EM-Kader, deshalb hatte er viele Aktionen, die aussichtsreich begannen. Doch nichts führte zum Ergebnis. Eine enttäuschende EM für den von Verletzungen geplagten Angreifer.

David Raum (26/167): Ist ein spannender Spieler, aber ebenfalls kein Außenverteidiger von Weltklasseformat. Hat Stärken und Schwächen – die zeigten sich, als er gegen die Schweiz auf Füllkrug flankte. Und als er Lamine Yamal im Viertelfinale entscheidend zu Olmo passen ließ.

Niclas Füllkrug (31/161): Fünf Einsätze als Joker, zwei Tore, jedoch zwei vergebene Großchancen im Spiel gegen Spanien. Bedient die Sehnsucht nach einem kraftvollen Zielstürmer und wird daher immer gefordert, sobald zehn Minuten kein Tor fällt. Hätte auch ohne Startelf-Einsätze zum Liebling der Nation sowie Spieler des Turniers werden können. Doch es hat nicht ganz gereicht.

Nico Schlotterbeck (24/120): Nach seiner Einwechslung gegen die Schweiz mit den üblichen 50:50-Aktionen, von denen allerdings keine missglückte, was statistisch als Glück zu bezeichnen wäre (einmal rettete ihn allerdings eine Abseitsstellung des Gegners). Bei seinem Startelf-Einsatz gegen Dänemark mit brillanter Partie, der Vorlage zum 2:0 und einem wilden Dribbling im eigenen Strafraum. Ein besonderer Spieler, der sich weiter entwickeln wird.

Nico Schlotterbeck überzeugte trotz hoher Risikobereitschaft vor allem im Spiel gegen Dänemark.

Nico Schlotterbeck überzeugte trotz hoher Risikobereitschaft vor allem im Spiel gegen Dänemark.

Emre Can (30/101): Kam aus dem Urlaub, wurde aber anders als die Dänen 1992 dann nicht Europameister. Wird als der Nationalspieler in Erinnerung bleiben, den Nagelsmann als entscheidende Waffe gegen das spanische Mittelfeld ausgemacht hatte – und der dann die Erwartungen bitter enttäuschte. Diese Sicht auf Can ist unfair, bei Borussia Dortmund ist er eben wegen seiner Zweikampfhärte und seines kraftvollen Antritts zu einer Führungsfigur auf hohem Niveau geworden. Doch so ist Turnierfußball.

Thomas Müller (34/56): Hatte ein paar fröhliche Minuten, als er beim Stand von 4:0 gegen zehn Schotten in seiner Münchner Heimat eingewechselt wurde. Blieb schon in dieser Partie wirkungslos, das steigerte sich in den 40 Minuten hilflosen Minuten, die er gegen die Spanier auf dem Platz stand. Der Weltmeister steht vor dem Abschied.

Pascal Groß (33/45): Kam gegen die Schotten zur zweiten Halbzeit für Andrich und spielte die Partie souverän zu Ende. Gilt als einer der Kandidaten, die kurzfristig Toni Kroos ersetzen könnten. Ist allerdings schon 33 Jahre alt, mittelfristig wird der deutsche Fußball also Schwierigkeiten haben, das defensive Mittelfeld mit Klassespielern zu besetzen.

Waldemar Anton (32), Maximilian Beier (25), Chris Führich (18), Benjamin Henrichs (9) und Deniz Undav (7) spielten zu wenig, um beurteilt werden zu können.