Neue Technologie in der BundesligaSo funktionieren die „Expected Goals“
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Im Fußball sind Statistiken nicht wegzudenken: Ballbesitz, Ecken, Torschüsse. All das gehört zu jeder Fußball-Übertragung dazu.
Seit einigen Wochen allerdings gibt es in der Bundesliga einen neuen Wert: den xGoals-Wert. Dieser bezieht sich auf die Wahrscheinlichkeit von Toren.
Was das neue Werkzeug bedeutet, wie es funktioniert und wo die Schwachstellen des Systems liegen.
Köln – Fünf Tore hat Hoffenheims Andrej Kramaric nach dem zweiten Bundesliga-Spieltag schon auf dem Konto. Damit führt er die Torjägerliste an. Der Stürmer der TSG war an den ersten Spieltagen überdurchschnittlich stark im Abschluss. Denn die Qualität seiner Chancen in beiden Partien hätte durchschnittlich nur für 3,88 Treffer gereicht. Diese Schlussfolgerung lässt ein neues Analyse-System zu, das in der Bundesliga seit dem 28. Spieltag der vergangenen Saison verwendet wird: Die „Expected Goals“ (zu deutsch: „zu erwartende Tore“).
Die Expected Goals sind eine von der Amazon-Tochter Amazon Web Services (AWS) gelieferte Statistik, die in Echtzeit berechnet, wie wahrscheinlich es ist, dass aus einer Abschlusssituation ein Tor fällt und wie viele Treffer insgesamt zu erwarten sind. Während der Spiele sieht der Zuschauer die Werte jeweils nach den Abschlüssen unter dem Spielstand eingeblendet.
Mehrere Faktoren ergeben die Wahrscheinlichkeit
Mithilfe des Algorithmus, der mit der Auswertung von rund 40.000 abgegebenen Torschüssen gefüttert wurde, kann die Qualität jedes Torabschlusses ermittelt werden. Die Berechnung erfolgt auf Basis mehrerer Faktoren: der Abstand zum Tor, der Winkel beim Abschluss, der Gegendruck durch Verteidiger in der Nähe, die Position des Torwarts, die Geschwindigkeit des Schützen bei seinem Versuch sowie die Frage, ob es sich um einen Schuss oder einen Kopfball handelt.
Der Wert liegt immer zwischen 0 und 1. Ein Wert von „xG 0,50“ bedeutet, dass 50 von 100 Schüssen aus einer solchen Situation Position zu einem Tor führten. Ein Sonderfall und gleichzeitig gutes Beispiel ist der Elfmeter. Die Voraussetzungen sind in diesem Fall immer gleich: Der Ball liegt genau zentral und elf Meter vom Tor entfernt, im Weg steht nur der Keeper. Ein Elfmeter hat einen festen Wert von xG 0,76, denn 76 Prozent der Elfmeter werden verwandelt.
Addierte Wahrscheinlichkeiten werden zu erwarteten Toren
Am Ende eines Spiels lassen sich alle xG-Werte – also die Torwahrscheinlichkeiten – der einzelnen Chancen zusammenrechnen, sodass eine Dezimalzahl entsteht, der „xGoals“-Wert. Der gibt an, wie viele Tore bei den vorhandenen Chancen zu erwarten gewesen wären. Hat eine Mannschaft beispielsweise drei Torchancen mit den Werten xG 0,34, xG 0,71 und xG 0,59 werden diese addiert und zum xGoals-Wert 1,64 zusammengefasst. Die Qualität der Torchancen hätte also durchschnittlich für 1,64 Tore gereicht – ebenso funktioniert das System für einzelne Spieler und deren Ausbeute.
Die Bundesliga führt zur Veranschaulichung die Partie zwischen Bayern München und Borussia Mönchengladbach vom 31. Spieltag der vergangenen Saison an. Der FCB gewann das Spiel 2:1, beim xGoals-Wert allerdings war Gladbach mit 2,3 im Vergleich zu 2,0 besser. Rein statistisch gesehen hatte die Borussia also die besseren Torchancen und schien die überlegene Mannschaft gewesen zu sein.
Hier allerdings zeigt sich die erste Schwachstelle der Statistik: Nicht immer ist ein hoher xGoals-Wert gleichbedeutend mit einer guten Leistung. Beispiel: Schießt Mannschaft A 20 Mal aus aussichtslosen Lagen mit einem Wert von xG 0,1 aufs Tor, so liegt der xGoals-Wert am Ende des Spiels bei 2,0. Wenn der Gegner B das Spiel dominiert, allerdings wenig Risiko eingeht und nur selten abschließt, dafür aber aus guten Positionen, kann dessen Wert niedriger sein, obwohl der Sieg nie in Gefahr war.
Etwa, wenn er zwei Elfmeter bekommen hat. Dann liegt der Wert von Gegner B zweimal bei xG 0,76, insgesamt ergibt sich ein xGoals-Wert von 1,52. Die Statistik kann nun so gedeutet werden, dass Mannschaft A die besseren Chancen hatte, obwohl das gar nicht der Fall war.
Entstehung nicht mit eingerechnet
Ebenfalls nicht mit eingerechnet wird die Entstehung einer Torchance. Ein Beispiel dafür ist Englands Tor der Saison 2019/20, das der ehemalige Leverkusener Heung-Min Son für die Tottenham Hotspur erzielte. Der Südkoreaner schnappte sich gegen Burnley den Ball am eigenen Sechzehner, sprintete und dribbelte mehr als 70 Meter über den Platz und schob am anderen Ende den Ball ins Netz. Vor sich hatte er nach seinem Solo nur noch den gegnerischen Keeper.
Ein Spieler, dem der Ball ohne Sprint in derselben Position glücklich vor die Füße fällt, hat beim Abschluss denselben xG-Wert – und damit dieselbe Wahrscheinlichkeit auf einen Treffer – wie Son. Dennoch dürfte es für den Tottenham-Angreifer deutlich schwieriger gewesen sein, das Tor zu erzielen.
Spieler spielt keine Rolle
Ebenfalls keinen Einfluss auf die statistischen Werte haben emotionale Faktoren wie Druck oder Angst, die Qualität des Zuspiels vor dem Abschluss, Glück oder Platzfehler, die womöglich den Ball in aussichtsreicher Lage verspringen lassen und so das Tor im realen Leben deutlich unwahrscheinlicher machen.
Außerdem ist der xGoals-Wert immer nur ein Durchschnittswert. Die Statistik unterscheidet nicht nach Spielern. Heißt: Lionel Messi und Dennis Diekmeier bekommen denselben xG-Wert zugeschrieben, wenn sie aus derselben Lage mit denselben Voraussetzungen schießen. Dass Messi die deutlich höhere individuelle Qualität im Abschluss und somit die viel größere Chance auf ein Tor hat, fließt nicht mit in die Statistik ein. Das ist ein Grund dafür, weshalb Top-Spieler oft Torwerte aufweisen, die höher sind als ihre xGoals-Werte.
Die durchschnittlich kompliziertesten Treffer in der abgelaufenen Bundesliga-Spielzeit erzielte übrigens Dortmunds Youngster Jadon Sancho. Erwartbar waren 8,49 Tore, tatsächlich brachte es der Engländer auf 17 Treffer.