Dass selbst Liverpool-Kapitän Jordan Henderson jetzt in einem Land spielt, das Homosexuelle hinrichtet, empört viele.
Fußball-Stars in Saudi-ArabienAb wann ist ein Mensch käuflich?
Mit dem, was gut und gerecht ist, hat Neymar da Silva Santos Júnior es ja nie wirklich genau genommen. Da ist die Sache mit der mutmaßlichen Steuerhinterziehung in Millionenhöhe aus seiner Zeit als Spieler des FC Santos. Da sind seine Verstrickungen in finanzielle Unregelmäßigkeiten beim Transfer zum FC Barcelona 2013. Da sind die Verstöße gegen Umweltauflagen auf seinem Anwesen an der brasilianischen Küste: Neymar hat auf dem Grundstück illegal einen See anlegen lassen, offenbar wurde dafür sogar ein Fluss ohne Genehmigung umgeleitet. Und da ist sein Verhältnis zum rechtsextremen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro, für den er im Wahlkampf öffentlich Partei ergriff.
Man muss sich diese Dinge noch einmal in Erinnerung rufen. Sie sind der Schlüssel zum Verständnis dazu, weshalb dieser begnadete Fußballer im Alter von 31 Jahren den Verdacht, er könnte an einer Karriere interessiert sein, die die Sportwelt rückblickend als seinen Fähigkeiten angemessen erachtet, derart eindrucksvoll entkräftet. Ab sofort läuft Neymar, den sie einst zum neuen Pelé erkoren hatten, für Al-Hilal auf. Seinen Wechsel vom französischen Topklub PSG nach Saudi-Arabien lässt er sich mit 150 Millionen Euro pro Saison bezahlen.
Neymar ist ein Monument der Schamlosigkeit
Erhabenheit war nie sein Ding, Neymar war und ist ein Monument der Schamlosigkeit. Baute man ihm, was als eher unwahrscheinlich gelten darf, in seiner brasilianischen Heimat eine Statue, sie würde der des Cristo Redentor in Rio de Janeiro ähneln. Nur eben nicht mit ausgebreiteten Armen, sondern mit zwei nach vorne ausgestreckten Mittelfingern.
Neymar, das hat schon sein Wechsel vor sechs Jahren von Barcelona nach Paris für die obszöne, vom katarischen Staatsfonds beglichene Ablöse in Höhe von 222 Millionen Euro gezeigt, pfeift darauf, was die Leute von ihm denken. Das macht ihn zu einem Mahnmal der Geldgier. Zu einem geeigneten Beispiel dafür, was die Verlockungen des Geldes mit uns Menschen anstellen können, macht es ihn jedoch nicht. Nur die wenigsten sind von vornherein so ruchlos.
Aber da ist halt nicht nur Neymar. Die Shoppingtour der Saudis auf dem Fußball-Transfermarkt ist ein Lehrstück über die Macht der Millionen, die selbst solche umfallen lässt, die als moralisch integer, mindestens aber als der Protzsucht unverdächtig galten – nur um sich nun höchstbietend ihre Wertvorstellungen abkaufen zu lassen. Ein Wechsel nach Saudi-Arabien bedeutet, sein fußballerisches Können, vor allem aber seinen Namen herzugeben für die Absichten eines Mannes, sich und die grausamen Methoden, mit denen er herrscht, mit der Schmutz lösenden Formel des Hochglanzfußballs reinzuwaschen.
Der Transferangriff der Saudi Pro League auf internationale Stars wie Karim Benzema oder Sadio Mané ist Sache des Public Investment Fund, mit mehr als 600 Milliarden US-Dollar einer der größten Staatsfonds der Welt. Über diesen Schatz und seine Zwecke gebietet Mohammed bin Salman, genannt MBS, saudischer Kronprinz und De-facto-Regent seines Landes. Er ist derjenige, der nach Erkenntnissen von US-Geheimdiensten den Befehl gegeben hat, den Journalisten Jamal Khashoggi im saudischen Konsulat in Istanbul zu zerstückeln. Unter MBS wurden nach Angaben von Amnesty International 2022 196 Todesurteile vollstreckt.
Henderson hat sich entschieden gegen Homophobie eingesetzt
Was kostet Moral? Ab welcher Summe tauschen Menschen per Handschlag ihre Ideale ein? Jordan Hendersons Schmerzgrenze zum Verkauf seiner Reputation liegt bei 800.000 Euro in der Woche. So viel soll der Engländer bei seinem neuen Klub Al-Ettifaq erhalten. Der 33-Jährige ist einer, dem nachgesagt wird, er mache sich Gedanken über die Welt, in der er lebt. Henderson, heißt es, habe so etwas wie einen Wertekompass. Doch die Nadel dreht plötzlich frei. „Ich bin gespannt, wie die neue Marke Jordan Henderson aussehen wird. Denn die alte ist tot!“, schrieb Thomas Hitzlsperger bei X. Und: „Ich habe eine Zeit lang geglaubt, sein Support für die LGBTQ+-Gemeinschaft sei echt. Wie dumm von mir.“
Dazu muss man drei Dinge wissen. Erstens: Henderson hat sich in der Vergangenheit entschieden gegen Homophobie eingesetzt, als Kapitän des FC Liverpool lief er zeitweilig mit Regenbogenbinde auf. Zweitens: Hitzlsperger ist als offen schwul lebender deutscher Ex-Nationalspieler eine der prominentesten Figuren der Community. Und drittens: In Saudi-Arabien stehen homosexuelle Handlungen unter Strafe, es droht die Hinrichtung.
Wo Vernunft ist, ist Versuchung
Wo liegt der Schmelzpunkt der eigenen Haltung? Ist Würde käuflich? Für 800.000 Euro in der Woche setzt Henderson sein bisheriges Engagement aus, um sich in den Dienst einer neuen Sache zu stellen. Saudi-Arabien will hoffähig werden, neue Geschäftsfelder erschließen, vielleicht bewirbt man sich um die Austragung der WM 2034. Ein 77-maliger Nationalspieler aus dem Heimatland des Fußballs ist bei diesen Plänen enorm hilfreich. „Was er getan hat“, schrieb Hitzlsperger im englischen „Guardian“, „steht im Widerspruch zu dem, was er gesagt hat.“ Das ist richtig, nur verkennt Hitzlsperger, dass sich Widersprüche praktisch rückstandslos im Alleskönner Geld auflösen lassen.
Es ist die moderne Spielart dialektischer Gesetzmäßigkeiten, die so alt sind wie der Mensch: Wo Vernunft ist, ist Versuchung. Der Moral ist immer auch der Sündenfall eingeschrieben. Adam und Eva essen die verbotene Frucht, Judas verrät Jesus für 30 Silberstücke, Baby Schimmerlos lässt sich in der TV-Serie „Kir Royal“ „so was von zuscheißen“ mit Haffenlohers Geld, Henderson tauscht ein Leben in Reichtum gegen ein Leben in noch mehr Reichtum. Und selbst ein N’Golo Kanté lässt sich jetzt von den Saudis zuschütten mit Geld. Es ist ein Jammer.
Der Franzose hatte sich in Leicester einst widerwillig einen Kleinwagen zugelegt. Es heißt, er habe ursprünglich zum Trainingsgelände joggen wollen. Längst ein Star beim FC Chelsea, nutzte er immer noch ein uraltes Handy. Steuerbetrug der Londoner bei seinen Gehaltszahlungen lehnte Kanté ab, die Enthüllungen von „Fooball Leaks“ verleiteten selbst ein fachfremdes Magazin wie „GQ“ zur Überschrift „Ist das der letzte ehrliche Fußballer?“. Bescheidenheit, von diesem Begriff ist Kantés Karriere durchsetzt. Bei Al-Ittihad soll er nun an die 100 Millionen Euro verdienen. Darüber kann man sich moralisch erheben, sich empören. Es ist aber, wie so oft, komplexer.
Warum Menschen nach Reichtum streben und Reiche nach noch mehr, darüber hat sich Georg Simmel schon 1900 in seiner „Philosophie des Geldes“ Gedanken gemacht. Geld trete, so Simmel, an Gottes Stelle. Und in ihrem Buch „Psychologie des Geldes“ von 2016 schreibt Claudia Hammonds: „Geld verhält sich wie eine Droge.“ Mit Folgen: „Geld beeinflusst unsere Meinungen, unsere Gefühle und unser Verhalten. Und diese drei Dimensionen durchmischen oder trennen sich auf faszinierende, wenn nicht gar höchst merkwürdige Art und Weise.“
Das Geld ringt mit dem Verstand, und selbst wenn es schmutzig ist, gewinnt nicht selten die Versuchung, es anzunehmen. Das „Dirty-Money-Dilemma“ haben James Gross und Arber Tasimi von der Stanford University beschrieben. Geld, so die Forscher, habe immer denselben materiellen Wert. Es gibt aber auch einen moralischen Wert, und der sinkt, wenn es sich um „schmutziges Geld“ handelt. In Experimenten waren Probanden zum Teil eher bereit, sich einen 100-Dollar-Schein schenken zu lassen, mit dem sich jemand die schnoddrige Nase abgewischt hatte, als einen Schein, der geklaut wurde.
Wie sich die Skrupel aushebeln lassen? Mit mehr vom Schlechten. Die Studie verweist auf ein Experiment mit Kleinkindern: Bekamen sie von einer freundlichen Person einen Keks angeboten und von einer gemeinen zwei Kekse, entschieden sie sich mit großer Mehrheit gegen die zwei Kekse. Wurden aus den zwei aber acht Kekse, griffen 69 Prozent der Kinder zu. Und weil Erwachsene Kinder in großen Körpern sind, funktioniert das Prinzip auch in ihrer Welt. Oder wer hat noch nie zumindest für den Bruchteil einer Sekunde darüber nachgedacht, ob man es nicht für sich behielte, fände man ein Portemonnaie nicht mit 20, sondern mit 1000 Euro darin?
Und damit zurück nach Saudi-Arabien. Beginnend mit der Unterschrift Cristiano Ronaldos zu Jahresbeginn (Salär bei Al-Nassr: 200 Millionen Euro pro Saison), haben die Saudis bereits Milliarden auf die Konten von Spielern und abgebenden Vereinen geschaufelt. Man darf dieses Geld annehmen. Aber man muss damit rechnen, dass es an Wert verliert. Denn auch darauf deuten die Forschungsergebnisse hin: Wenn der öffentliche Druck steigt, wenn nur genügend Leute lange genug kritisch hinschauen, steigen die moralischen Kosten rapide an.
Neymar wird’s egal sein, andere werden diese Blicke nicht mehr los. Man darf das als Auftrag verstanden wissen.
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