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Legendäre Nacht von SevillaSchumacher attackiert Liftboy, Platinis Frau geht fremd

Lesezeit 5 Minuten
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Die Sekunde vor dem Crash: Schumacher rammt Battiston mit der rechten Hüfte. Der Franzpse kracht bewusstlos auf den Rasen.

Köln – Das Finale gegen Italien ist nahe, 3:1 führt Frankreich in der Nacht von Sevilla gut 20 Minuten vor dem Abpfiff der Verlängerung. Die Franzosen, überrascht von sich selbst, berauscht von ihrer Spielstärke und ihrer Führung, spielen weiter so, wie es ihr Trainer Michel Hidalgo von ihnen fordert: Attraktiv. Offensiv. Riskant. Doch es geht nicht gut.

Die Deutschen, der Gegner, verkürzen durch Karl-Heinz Rummenigge und gleichen auch noch dank Klaus Fischers Fallrückzieher-Tor aus. Sie schaffen es in den Flow, den die Franzosen nicht mehr spüren, gewinnen das anschließende Elfmeterschießen, das erste der WM-Geschichte, und erreichen an jenem 8. Juli 1982 ihrerseits das Endspiel von Madrid.

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Vor dem Spiel: Hans-Peter Briegel, Klaus Fischer und Uli Stielike (von rechts) betreten den Rasen des Estadio Sanchez-Pizjuan in Sevilla.

Es ist dieser wahnwitzige Spielverlauf, der auch 40 Jahre danach im kollektiven Fußball-Gedächtnis beider Nationen abgespeichert ist.

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Die deutsche Nationalelf vor dem Spiel in Sevilla: Paul Breitner, Uli Stielike, Toni Schumacher, Hans-Peter Briegel, Klaus Fischer, Bernd Förster (obere Reihe von links). Manfred Kaltz, Pierre Littbarski, Karlheinz Förster, Wolfgang Dremmler und Felix Magath (untere Reihe von links).

Und die 57. Minute, in der der deutsche Torwart Harald „Toni“ Schumacher und der Franzose Patrick Battiston verhängnisvoll zusammenkrachen. Über diese Fakten hinaus gibt noch viele unbekannte Geschichten, die dieses Spiel beeinflusst haben. Ein Überblick.

Die Vorgeschichte des Crashs

Vor der Abfahrt ins Stadion Sanchez-Pizjuan bleibt Schumacher mit seinen Kölner Teamkollegen Pierre Littbarski und Klaus Fischer im Aufzug des Hotels „Los Lebreros“ von Sevilla stecken. Schumacher ist außer sich, gibt dem Liftboy eine Kopfnuss, reißt die Türen auf und sieht, dass das Gefährt zwischen zwei Etagen feststeckt. 15 Minuten Anspannung, Aufregung, Verzweiflung. Dann fährt der Aufzug weiter. Das Trio erreicht hektisch den abfahrbereiten Bus.

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Mit dem Außenrist ins Littbarskis Flanke gesprungen - auf diese kuriose Weise trifft Rummenigge zum 2:3 (102. Minute).

In der Kabine findet sich das hellblaue Trikot, mit dem Schumacher auflaufen möchte, nicht. Der abergläubische Torwart betrachtet diesen Dress als seinen „Superman-Schutz“, als Hilfe, weil er damit zuletzt im Turnier ungeschlagen geblieben ist. Doch der Zeugwart hat es nicht eingepackt. Schumacher sagt: „Es kann sein, dass ich wegen diesen beiden Geschichten viel aggressiver war als sonst in Spielen.“ In der ersten Halbzeit bekommen dies Kapitän Michel Platini, Manuel Amoros und Didier Six mit heftigen, unnötigen Remplern zu spüren. Und schließlich Battiston.

Battistons Verletzungen

Vor dem Vollsprint-Crash zwischen Battiston und Schumacher trifft der Franzose den Ball, der rechts am deutschen Pfosten vorbei kullert. Schumacher rammt Battiston im Auslaufen brutal mit der Hüfte an der Schläfe. Es hätte eine rote Karte und Elfmeter für Frankreich geben müssen. Doch der niederländische Schiedsrichter Charles Corver pfeift nichts, was die Beteiligten und die französischen Betrachter an eine Verschwörung glauben lässt.

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Die Folgen für Battiston: Bewusstlosigkeit, Gehirnerschütterung, vier zerstörte Zähne. Battiston wird noch während der Partie ins Hospital Sagrado Corazon chauffiert. Eine Woche später wird ein Halswirbelbruch diagnostiziert. Heute noch leidet Battiston unter Spätfolgen: depressive Verstimmungen; Beeinträchtigung des Sehvermögens; die Vorderzähne müssen sechs Mal ausgetauscht werden – Probleme mit dem Zahnfleisch. Schumacher weiß das alles nicht. Als er damit konfrontiert wird, ist tief erschüttert und sagt: „Das tut mir unendlich Leid.“

Die Nachgeschichte

In der Woche nach dem Halbfinale gewinnt Schumacher in Frankreich eine Abstimmung, in der nach dem unbeliebtesten Deutschen der Geschichte gesucht wird – vor Adolf Hitler. 37 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs flammen anti-deutsche Ressentiments in den französischen Tageszeitungen auf.

Battiston besucht daraufhin die Nachrichtensendung von Yves Mouroussi bei TF 1, die französische Entsprechung der Tagesschau. Battiston sagt: „Ich wollte die Maßlosigkeit beruhigen, die sich nach dem Spiel gegen Schumacher ergeben hatte.“

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Großer Moment: Klaus Fischer trifft mit einem Fallrückzieher zum 3:3 (108. Minute).

Weil der sich nicht auf dem Platz entschuldigte. Weil er von Jacketkronen sprach, die er Battiston bezahlen wolle. Weil er Battiston nicht nach dem Match im Krankenhaus besucht hat, was zeitlich möglich gewesen wäre. Schumacher räumt diese Fehler ein. Er entschuldigt sich am 15. Juli 1982 bei Battiston, der diese Geste annimmt.

Es ist Schumacher, der im Elfmeterschießen nach dem Fehlschuss des daraufhin herzzerreißend leidenden Uli Stielike die Versuche von Didier Six und Maxime Bossis pariert – und so aus deutscher Sicht zum Helden aufsteigt. Schumacher berichtet heute davon, in der Zeit nach Sevilla in Gedanken von grauen Wölfen heimgesucht worden zu sein, die er erst im Herbst 1982 vertreiben konnte. Seine Umschreibung für Depressionen.

Eine französische Affäre

Frankreichs formidables Mittelfeld Genghini-Tigana-Platini-Giresse findet sich während des Turniers in Spanien und wird zu einem Gütesiegel der Hidalgo-Jahre. Doch die Franzosen verfügen 1982 über ein weiteres Genie im Zentrum des Spiels: Jean-François Larios, ein Teamkollege von Platini in St. Étienne. Während des Turniers ist er aber ein Feindbild für Platini, weil Larios mit Christèle Platini eine Affäre begonnen hat. Madame Platini kehrt zwar noch vor der WM zum Patron der französischen Nationalelf zurück. Doch in Spanien ist Larios ein Ausgestoßener. Diese Lovestory hat die Franzosen womöglich entscheidend geschwächt.

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Der Schuss ins Finale: Horst Hrubesch verwandelt seinen Elfmeter zum 8:7. Das war die Entscheidung.

Himmlischer Beistand

Horst Hrubesch zieht sich in der Kabine des Stadion Sanchez-Pizjuan neben Heiligenbildern von Maria und Jesus um: „Da kommst du da hin, da hängen da diese Bilder. Da habe ich gedacht: Mir kann hier nichts passieren. Wir erreichen das Finale. Feierabend.“ Hrubesch wird eingewechselt und verwandelt den entscheidenden Elfmeter. Er legt sich den Ball vorher gar nicht zurecht, das ist eine fußballhistorische Besonderheit. Wer Maria und Jesus als Schutzpatrone hat, kann sich das wahrscheinlich auch erlauben. Ohne diesen Beistand verliert die deutsche Elf drei Tage später das Finale gegen Italien mit 1:3.

Die Fehler der Franzosen

Frankreichs Trainer Michel Hidalgo versäumt es, einen Mittelfeldspieler unter seine damals nur fünf gestatteten Auswechselspieler zu platzieren – für den verletzten Zentrumsspieler Genghini kommt der Verteidiger Battiston, für ihn schließlich der Libero Christian Lopez, der im Match orientierungslos wirkt. Vor allem aber hat Hidalgo seine Mannschaft nach dem 3:1 weiter offensiv spielen lassen – und vor dem Spiel keine Elfmeterschützen nominiert.Der Autor dieses Artikels hat ein Buch zum Thema veröffentlicht: Stephan Klemm, „Die Nacht von Sevilla ’82. Ein deutsch-französisches Fußballdrama.“ Verlag Eriks Buchregal. 192 Seiten. 24,90 Euro.