Der deutsche Radprofi fühlt sich bereit für die 106. Auflage der Italien-Rundfahrt. Im Interview spricht er über seine Ziele.
Interview mit Lennard Kämna„Ich starte mit Topform in den Giro d'Italia“
Herr Kämna, der Giro d’Italia beginnt an diesem Samstag mit einem knapp 20 Kilometer langen Zeitfahren in Fossacesia Marina südlich von Pescara. Wie haben Sie die Tage vor dem Start verbracht?
Lennard Kämna: Ich war nach der Tour of the Alps, die am 21. April endete, ein paar Tage daheim. Aber die Wetteraussichten waren schlecht. Ich bin daraufhin nach Mallorca geflogen. Ich war acht Tage dort, allein, nur meine Freundin war dabei, aber kein Teamkollege. Ich konnte dort richtig gut unter besten Bedingungen trainieren. Ich habe noch mal zwei harte Blöcke eingeschoben. Ich bin jetzt auf einem sehr guten Level und freue mich auf den Giro.
In der Vorbereitung haben Sie zwei Trainingslager in der Höhe absolviert, zunächst im März auf Teneriffa im Umfeld des Teide und dann im April in der Sierra Nevada. Wie bekommt Ihnen das Training jenseits der Baumgrenze?
Das bekommt mir sehr gut und es wirkt sich entsprechend auf meine Leistung aus. Beim Tirreno im März bin ich prima durchgekommen, ich habe sogar für einen Tag das Führungstrikot getragen. Und in den Alpen habe ich im April eine Etappe gewonnen. Passt also.
Stand auch das Einspielen mit Ihren Giro-Teamkollegen in der langen Trainingslager-Zeit auf Ihrer To-do-Liste?
Ja und nein. Wir hatten beim Tirreno und bei der Alpen-Tour viele Fahrer dabei, die auch beim Giro starten. Das war sehr wichtig für das Einspielen in Stresssituationen. Das meiste Teambuilding vollzieht sich aber für mich immer noch in den Rennen. Hinzu kommt, dass ich in diesem Jahr viel mit dem Russen Alexander Wlassow gefahren bin. Das Ziel war, dass wir gut miteinander klarkommen, dass wir uns auf dem Rad verstehen und ungefähr wissen: Wie fährt, wie tickt der andere, wie ist sein Fahrstil? Wie kann ich dann mit ihm zusammenarbeiten? Wir sind ein echt gutes Duo geworden. Das gibt mir viel Sicherheit für den Giro.
Mit Wlassow bilden Sie für Ihr deutsches Team Bora-hansgrohe eine Doppelspitze beim Giro. Sie fahren dort erstmals in Ihrer Karriere auf ein Top-Ergebnis für die Gesamtwertung. Wie sieht die Absprache zwischen Ihnen beiden aus?
Wir sagen uns nicht vor Attacken: Heute ich, morgen du. Es geht für uns beide darum, etwas zu versuchen – und wer kann, der darf. Es gibt keine Rangliste. Das entscheiden wir spontan. Bei der Tour of the Alps hat das sehr gut geklappt, wenn wir uns angesehen haben und ein, zwei Stichworte gewechselt haben. Dann war uns jeweils klar, was der andere vorhat und vor allem, wie es ihm geht. So kam es, dass ich dann vor meinem Etappensieg ausgerissen bin. Das passierte spontan.
Wie würden Sie ihre aktuelle Form beschreiben?
Ich bin auf einem wirklich guten Level und bin für meine Verhältnisse in Topform. Ich hatte noch nie so ein konstantes Frühjahr und bin zuvor auch nicht auf so einem Level gefahren. Es ist aber nicht so, dass ich jedes Radrennen gewinne, wenn ich in Topform bin. Aber für mich persönlich weiß ich, dass mein Leistungsniveau gerade sehr hoch ist.
Sie sind grundsätzlich ein Fahrer, der mutig in Ausreißergruppen springt, insbesondere in den Bergen. Müssen Sie sich nun als Klassementfahrer sehr zurücknehmen?
Ja. Ich muss konservativer fahren und darauf achten, dass ich meine Energie beisammen halte. Ich würde aber trotzdem sagen, dass ich gerne etwas von meinem angriffslustigen Fahrstil mit in den Giro nehmen möchte. Das ist meine Art zu fahren. Und das ist das, was mir am meisten Spaß macht. Wenn ich beim Giro eine Chance sehe und spüre, dass ich es meine Beine zulassen, werde ich auf jeden Fall versuchen, anzugreifen.
Wie kam es zu der Überlegung, dass Sie nun versuchen wollen, in einer dreiwöchigen Rundfahrt weit vorne mitzufahren? Ging das von Ihnen aus, von Ihrem Trainer oder vom Team?
Es war ein Zusammenspiel. Wir haben uns im Zusammenhang mit meiner Vertragsverlängerung im vergangenen Jahr zusammengesetzt und überlegt: Was könnten die Ziele sein in den nächsten ein, zwei Jahren. Dabei haben wir den Entschluss gefasst, dass ich auszuprobieren sollte, bei einer dreiwöchigen Rundfahrt auf die Gesamtwertung zu fahren. Es ist ja so: In den Bergen kann ich mithalten, im Zeitfahren bin ich sehr gut und der Zeitpunkt passte. Wir haben uns daraufhin die Strecken der großen Rundfahrten angesehen und uns für den Giro für diesen Versuch entschieden. Das liegt an den mehr Zeitfahr-Kilometern, die dort im Vergleich zur Tour de France diesmal angeboten werden. Ich glaube zudem, dass der Giro für ein Debüt als Klassementfahrer im Vergleich zur Tour die bessere, stressfreiere Rundfahrt ist.
Die Konkurrenz beim Giro ist sehr groß, der Belgier Remco Evenepoel und der Slowene Primoz Roglic starten als Top-Favoriten. Wen sehen Sie zudem ganz vorne?
Beim Giro stehen eine Reihe von Topfahrern am Start. Remco Evenepoel und Primoz Roglic gehören genauso dazu wie der Engländer Tao Geoghegan Hart, der den Giro 2020 bereits gewonnen hat. Oder der Portugiese Joao Almeida – das sind alles herausragende Klassementfahrer. Die stehen eine Stufe über mir im Ranking der Favoriten. Ich sehe mich da als Herausforderer.
Der Giro ist in der Schlusswoche mit Höchstschwierigkeiten gespickt. Was kommt da auf Sie zu?
Wir haben uns einzelne Etappen angeschaut, die gewiss sehr schwer werden dürften. Und auch solche, die interessant werden könnten. Diesmal ist ein großer Haufen ziemlich großer Herausforderungen beim Giro dabei. Vor allem die letzte Woche in den Alpen ist extrem hart. Vor dem letzten Zeitfahren am Tag vor dem Finale der Rundfahrt in Rom gibt es unglaublich schwere Bergetappen. Der Kampf gegen die Uhr am vorletzten Tag wird zudem monströs mit sieben verrückten letzten Kilometern, die durchschnittlich 15 Prozent Steigung aufweisen.
Wann wäre der Giro für Sie ein Erfolg?
Wenn ich am Ende einen Top-Ten-Platz belege. Ich möchte natürlich so weit vorne wie möglich landen, aber Top Ten ist das Ziel. Ich fühle mich bereit. Und ich habe keine Angst zu versagen.
2022 sind Sie beim Giro schon sehr erfolgreich gefahren, es gab einen Etappensieg und Gesamtplatz 19. Sie waren der wichtigste Helfer des Australiers Jai Hindley in den Bergen. Besonders auf der vorletzten Etappe auf den Passo Fedaia am Marmolata war es auch Ihre Arbeit, die dafür gesorgt hat, dass Hindley ins Rosa Trikot fuhr und schließlich den Giro gewann. Gab Ihnen das die letzte Bestätigung, dass auch Sie selbst es als Klassementfahrer schaffen könnten?
Ich habe damals gemerkt, dass mein Level gut ist, aber ich habe auch gespürt, dass mir zu den Top-Bergfahrern mindestens fünf Prozent fehlen. Die Lücke war nicht mehr riesig, aber sie war da. Deshalb war es mir wichtig, mit sehr guter Arbeit einen Leistungsschritt über den Winter und das Frühjahr aufzubauen. Mit dem Level des Vorjahres könnte ich vielleicht unter die Top 15 fahren und wenn es richtig gut läuft, vielleicht Zehnter werden. Aber es brauchte schon noch einen Schritt nach vorn.
Wie sah diese von Ihnen angesprochene „sehr gute Arbeit“ aus?
Es geht dabei viel um Konstanz. Ich würde sagen, ich hatte 2022 ein gutes Jahr. Aber ich war inkonstant. Ich hatte noch ein, zwei Krankheiten gehabt, die mich zurückgeworfen haben. Ich bin 2022 viele Rennen gefahren, um schnell meine Form aufzubauen. Aber ich hatte nicht viel strukturiertes Training zwischen den Rennen. In diesem Jahr fahre ich weniger Rennen, trainiere aber viel mehr. Ich habe auch ein bisschen was am Gewicht gemacht.
Auf dem Weg zum Weltklassefahrer haben Sie 2018 und 2021 zwei Mal eine längere Pause eingelegt. Hat Sie das nach Ihrer Rückkehr mental stärker gemacht?
Das ist auf jeden Fall so. Hinzu kommt ja nun auch eine gewisse Erfahrung. Bei meiner ersten Auszeit 2018 war ich 21. Ich war vom Kopf her noch kein Profi. Bei mir hat die Entwicklung länger gedauert. Ich bin ein klassischer Spätzünder. Viele Sachen haben mich früher auch überfordert. Das gehört zu meiner Karriere, dass es diese Schwankungen nach unten auch gegeben hat.
Während Ihrer zweiten Auszeit hat Ihr Teamchef Ralph Denk Sie in die Teamzentrale nach Raubling in Bayern eingeladen, für Sie eingekauft und für Sie gekocht. Daraufhin gab es ein Gespräch über Ihre Zukunft. Was haben Sie davon mitgenommen?
Ich hatte damals ein sehr, sehr gutes Gespräch mit Ralph Denk geführt. Das war gewiss nicht das einfachste Gespräch in meinem Leben. Was die Kommunikation zwischen Ralph Denk, dem Team und mir so besonders macht, ist die Ehrlichkeit, mit der wir an Dinge herangehen. Und dass diese Ehrlichkeit gelebt wird. Ich habe Ralph erklärt, wie es mir geht, dass ich die Auszeit benötige. Das wurde akzeptiert und mir wurde ehrlich geholfen. Das war die Basis, die Chance zu bekommen, weiter im Team zu bleiben. Das zeigt mir, dass ich eine große Wertschätzung genieße. Das ist ein tolles Gefühl.
Sie haben auch mal eine Zeit in der Nähe von Köln gelebt. Wie kam es dazu?
Das war ganz am Anfang meiner Karriere. Da habe ich in Hürth gewohnt. Weil ich da Trainingskollegen hatte, die auch in Hürth oder in Köln gewohnt haben. Hauptsächlich habe ich damals mit Phil Bauhaus und Nikias Arndt trainiert. Aber das war nur ein kurzer Abschnitt in meinem Leben als Profi. Aktuell wohne ich in Vorarlberg in Österreich – wegen der dortigen Trainingsbedingungen und der Kollegen, mit denen ich dort trainieren kann, das sind vor allem Pascal Ackermann, Rüdiger Selig, Michael Schwarzmann und manchmal auch Emanuel Buchmann, der auch in meinem Team fährt.