Flandern-RundfahrtWie es Tadej Pogacar gelang, in die Geschichtsbücher zu fahren

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Attacke im Oude Kwaremont, einem der vielen giftigen Anstiege mit Kopfsteinpflaster-Untergrund von Tadej Pogacar.

Der Slowene Tadej Pogacar bei der entscheidenden Attacke der 107. Flandern Rundfahrt im Oude Kwaremont.

Der Slowene dominiert die Radsportwelt. Er ist in allen Rennen einer der Favoriten, dabei ist er erst 24 Jahre alt.

Nebel liegt über dem Oude Kwaremont, einem Anstieg mit Kopfsteinpflaster in der flandrischen Provinz. Erzeugt wurde der weiße Rauch durch das Abbrennen eines Bengalischen Feuers weiter unten im Berg. Diese Erhebung, 111 Meter hoch, zwei Kilometer lang, bis zu elf Prozent steil, wird gerade zum dritten Mal im Rahmen der 107. Flandern-Rundfahrt passiert. Und zwar vorne weg von Tadej Pogacar, dem derzeit besten Radprofi der Welt.

Unwiderstehlich zieht er an dieser hoch frequentierten Stelle davon, dabei höchste Wattwerte tretend. Er meistert die Kraft fordernde Passage in steilem Terrain auf unmöglichem Untergrund am besten und wie auf Federn fahrend. Im Hintergrund sind im rot-weißen Dress und in Blau Pogacars letzte Verfolger zu sehen, Mads Pedersen aus Dänemark, und der Niederländer Mathieu van der Poel, ein weiteres Phänomen der Radsport-Gegenwart. Sie hetzten hinterher, aussichtslos.

Was ist das nur für ein Fahrer! Er ist mehr als ein Champion. Er hat es in die Geschichte dieses Sports geschafft. Wie er fährt – mutig, voller Angriffslust und Chuzpe – das macht ihn zu einem Teil der Historie seines Sports
Eddy Merckx

Pogacar kündigte sogar an, an dieser Stelle zu attackieren, also während der finalen Passage über den Oude Kwaremont, knapp 16 Kilometer vor dem Ziel in Oudenaarde, gelegen 30 Kilometer südlich von Gent. Denn dies ist ein klassischer Ort der Vorentscheidung bei Belgiens wichtigstem Radrennen, und Pogacar, erst 24 Jahre jung, wusste, dass er nur durch eine Attacke und einen Soloritt seine härtesten Rivalen loswerden könnte, konkret: van der Poel und Belgiens Fünfsterne-Favoriten Wout van Aert.

Letzteren jedoch hatten Pogacar und van der Poel schon etwas früher abgestellt, im Kruisberg, gut zehn Kilometer vor dem Oude Kwaremont, nach dem sogar ein sehr schmackhaftes belgisches Bier benannt ist. Nur noch Pedersen galt es für das Duo zu stellen. Zeitweise reisten die drei Phänomene gemeinsam dem Ziel entgegen, wie so oft, wenn es in einem der fünf Monumente des Radsports um die großen Preise geht.

Kristallisationspunkt Oude Kwaremont

Pogacar, van Aert, van der Poel hintereinander auf der Jagd nach Pedersen – was für eine Konstellation in diesem Rennen, das für alle drei eine große Bedeutung besitzt. Van der Poel hat es bereits zwei Mal gewonnen (2020 und 2022), Pogacar verlor hier im Vorjahr im Sprint, Platz vier am Ende, was ihn so sehr ärgerte, wie keine Niederlage zuvor. Er nahm sich vor, in diesem Jahr zurückzukehren, und dann mit neuer Taktik anzutreten, die eben vorsah, im Oude Kwaremont zu attackieren.

Zunächst also ging van Aert verloren, schließlich dann, im Oude Kwaremont, auch van der Poel und schließlich Mads Pedersen, der in jenem Moment, als ihn Pogacar überholte, dachte: „Tschüss, genieße den Rest des Parcours, mein Freund, wir sehen uns frühestens hinter der Ziellinie wieder.“ Später raste auch van der Poel an Pedersen vorbei, doch Pogacar hatte auf der Kuppe des Oude Kwaremont die gut 15 Sekunden Vorsprung, die er auch im Gegenwind der Zielpassage nicht mehr abgab.

Und so gewann Pogacar vor van de Poel und Pedersen. Van Aert wurde Vierter. Beim ersten Monument dieses Jahres, bei Mailand-Sanremo Mitte März, wurde Pogacar durch eine kleine Unachtsamkeit im Finale noch von van der Poel bezwungen, für ihn blieb Rang drei vor van Aert, was zeigt, wie dominierend dieses Trio derzeit in Eintagesklassikern fährt.

Nicht zu stoppen: Pogacar bei der Zielpassage. Er hebt die Arme, die Geste des Gewinners.

Nicht zu stoppen: Pogacar bei der Zielpassage.

Doch Pogacar, leicht, enorm kraftvoll, elegant auf dem Rad, stets in der Lage, aus dem Nichts entscheidend zu beschleunigen, auch sehr weit vor dem Ziel, hat es mit seiner aktiven Fahrweise in die Geschichtsbücher seines Sports geschafft. Der Slowene gewann bereits zweimal die Tour de France, und jenes Double aus Tour und Flandern-Rundfahrt gelang zuvor erst zwei Fahrern: Frankreichs Helden Louison Bobet 1955 (Tour-Sieger zwischen 1953 und 1955) und Belgiens Radsport-Herkules Eddy Merckx 1969 (noch vor seinem ersten Tour-Erfolg) und 1975 (nach seinem fünften Triumph in Paris).

Hinzu kommen für Pogacar noch Siege in zwei weiteren Monumenten, der Lombardei-Rundfahrt (2021, 2022) und Lüttich-Bastogne-Lüttich. Nur Mailand-Sanremo und Paris-Roubaix fehlen noch in dieser außergewöhnlichen Siegesliste. Eddy Merckx wiederum, mit 525 Karrieresiegen der erfolgreichste Radsportler aller Zeiten, ist grundsätzlich sehr sparsam mit Lob in Bezug auf seine möglichen Nachfolger.

Nach Pogacars Ritt durch Flandern jedoch war Merckx verbal nicht mehr zu halten: „Was ist das nur für ein Fahrer! Er ist mehr als ein Champion. Er hat es in die Geschichte dieses Sports geschafft. Wie er fährt – mutig, voller Angriffslust und Chuzpe – das macht ihn zu einem Teil der Historie seines Sports.“

Rückkehr der alten Zeiten

Mehr noch: Pogacar schaffe es, den Radsport wieder in die Bobet- und Merckx-Zeit zu transferieren, als die Profis große Allrounder waren und keine Spezialisten für die Frankreich-Rundfahrt, wie es etwa Lance Armstrong oder Jan Ullrich waren. Merckx nennt das „Computer-Radsport“. Pogacar wiederum sei ein Glück für Radsportliebhaber. Und: „Er hebt das Niveau dieses Sports auf eine Weise an, wie es kaum jemandem zuvor gelungen ist.“ Wie gesagt: Mit gerade mal 24 Jahren.

All dies auf einmal vereint sich in dem Bild des enteilenden Mannes im schwarz-weißen UAE-Dress auf einer schwarzen Colnago-Maschine. Die Verfolger, abgehängt, hetzten chancenlos hinterher. Und er, Pogacar, rast allen davon, als Solist, der schwersten und schönsten Form des Siegens auf dem Rad. Ach ja: Pogacar hat in dieser Saison bereits zehn Siege herausgefahren. Und wir haben gerade mal Anfang April. Auch das ist unglaublich.

Erst recht in einem Sport, der es seinen Betrachtern in Bezug auf das Glauben in der Vergangenheit nicht leicht gemacht hat.

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