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„Musste Zelt mit Trainer teilen“Kindesmissbrauch im Amateursport massiv verbreitet

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Schwimmen gehört zu den fünf meistgenannten Sportarten, in denen eine Gewalterfahrung berichtet wurde.

Köln/Berlin – Simon war 14 Jahre alt und mit seinem Ruderverein unterwegs, geschlafen wurde im Zelt: „In der Nacht bin ich davon aufgewacht, dass mein Trainer mich halb ausgezogen hatte und mit seinem Riesenkörper auf mir lag. Er küsste mich und nahm sexuelle Handlungen an mir vor. Ich weiß nur, dass es sehr schmerzhaft war und die körperlichen Manipulationen sehr wehgetan haben.“

So steht es im Protokoll von Simons Befragung für die Fallstudie „Sexualisierte Gewalt und sexueller Kindesmissbrauch im Kontext des Sports“. Sie wurde von der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs durchgeführt und am Dienstag in Berlin vorgestellt.

Positive Erzählungen werden gebrochen

Das Fazit der Kommission: „Erschütternd.“ Simon, dessen Name wie bei allen Betroffenen geändert wurde, ist einer von 72 Fällen, die in die Untersuchung einbezogen wurden. Die Berichte „lassen ein Bild vom Sport entstehen, das nicht zu dessen allgemein verbreitetem positiven Image passen mag. Gerade das macht es den Betroffenen so schwer, für ihr im Sport erfahrenes Leid Aufmerksamkeit und Hilfe zu erhalten. Ihre Berichte brechen die positive Erzählung des Sports“ – schreiben die Wissenschaftler in ihrer Zusammenfassung.

Aktuell finden ehemalige und noch aktive Sportlerinnen und Sportler immer häufiger den Mut, ihre furchtbaren Erlebnisse publik zu machen. Für aktuelle Studien. Oder in den Medien, wie der ehemalige Wasserspringer Jan Hempel, der kürzlich in einer ARD-Dokumentation vom jahrelangen Missbrauch durch seinen Trainer Werner Langer berichtete. Oder vor Gericht, wie die US-Turnerinnen um Superstar Simone Biles, die wegen sexuellen Missbrauchs gegen den früheren amerikanischen Teamarzt Larry Nassar geklagt hatten.

Die dunkle Seite des Sports

Die Fallstudie, sagte Heiner Keupp als Mitglied der Aufarbeitungskommission, richte den „Blick auf die dunkle Seite des Sports. Der Sport muss die Schweigemauern über dieses unangenehme Thema überspringen. Die Folgen sind für die Betroffenen ein Leben lang erdrückend und einschneidend.“

Einen Großteil der Gewalterfahrungen haben die Athletinnen und Athleten laut der Studie im (Nachwuchs-)Leistungssport (etwa 40 Prozent) und im wettkampforientierten Breitensport (etwa 40 Prozent) gemacht, der reine Freizeitsport (20 Prozent) scheint weniger betroffen. In den meisten Fällen handelte es sich um (schwere) sexualisierte Gewalt mit Körperkontakt. Die Tatpersonen stammten vorwiegend aus dem direkten oder nahen Umfeld: männliche Trainer, Betreuer oder Lehrer. Fast ein Fünftel der ausgewerteten Berichte bezieht sich auf sexualisierte Gewalt im Rahmen des Sports in der DDR.

Zentrum für Safe Sport wird gefordert

Ein wesentliches Ziel der Studie sei es, Betroffenen „Gehör zu verschaffen“. So beschreibt es Bettina Rulofs, leitende Autorin der Studie und Professorin an der Deutschen Sporthochschule Köln. Sie forderte als Konsequenz ein „Bekenntnis zur Aufarbeitung von vergangenen Übergriffen, aber auch von aktuellen Vorfällen.“

Damit ist die Studie eine Bestätigung für die Bemühungen der unabhängigen Kadersportler-Vertretung „Athleten Deutschland“, ein unabhängiges Zentrum für Safe Sport aufzubauen. „Die Fälle in der Studie sind schockierend, aber sie überraschen nicht“, sagt Maximilian Klein, der in der Geschäftsstelle von Athleten Deutschland für den Bereich Safe Sport zuständig ist: „Wir wissen um die Prävalenz im Spitzen- und im Breitensport, wir hören immer wieder von ähnlichen Fällen.“

Ein Spiegelbild der Gesellschaft

Dorota Sahle, Referentin für Prävention und Intervention sexualisierter Gewalt im Sport beim Landessportbund NRW, ist seit 1996 mit dem Thema befasst. Schon 1998 habe die Pilotstudie „Gewalt gegen Mädchen und Frauen im Sport“ deutlich gemacht: „Der Sport ist ein Spiegelbild der Gesellschaft, sexualisierte Gewalt passiert dort genauso wie anderswo.“ Die aktuell in Berlin vorgestellte Fallstudie ebenso wie die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Sicher im Sport“, die der LSB NRW Mitte September öffentlich machte, verdeutlichten aber die Dringlichkeit, das Thema als „gesamtgesellschaftlich zu bewältigende Aufgabe“ anzusehen.

Einige Vereine verschließen sich der Aufklärungsarbeit

Beim LSB NRW bemühe man sich, „aufzuklären, zu qualifizieren und Vereine dabei zu unterstützen, eine Kultur der Aufmerksamkeit und Transparenz zu schaffen“, sagt Sahle. Bis heute gebe es Sportvereine, die sich der Präventions- und Aufklärungsarbeit verschließen. „Sie glauben, dass ihnen nachgesagt wird, dass sie das machen, weil sie im Verein ein Problem mit dem Thema haben“, erklärt die Referentin.

Auch das ist bekannt: Hilfe innerhalb der Vereins- und Verbandsstrukturen finden Betroffene Sportlerinnen und Sportler oft nicht. „Es wird zu oft bagatellisiert und weggesehen“, sagt Klein. Entsprechend wichtig seien unabhängige Beratungsstellen, von denen es inzwischen einige gibt. Der LSB NRW etwa hat vor knapp zwei Jahren eine externe Beratungsstelle für Betroffene von sexualisierter Gewalt eingerichtet, die von zwei vom Sportsystem unabhängigen Rechtsanwältinnen betrieben wird. Athleten Deutschland hat im Mai diesen Jahres die unabhängige Anlaufstelle für Betroffene von interpersonaler Gewalt und Missbrauch im Spitzensport in Betrieb genommen.

Dass es „einen Missbrauch mit dem Missbrauch“ gegeben hätte, habe sie noch nicht erlebt, sagt Sahle. Dennoch höre sie manchmal die Vermutung, Athletinnen oder Athleten könnten sich dort melden, um einem Trainer eins auszuwischen. „Die Frage danach kommt oft als erstes“, sagt Sahle: „Das ist interessant. Denn sollte nicht eigentlich gefragt werden: Wie viele Menschen erleben im Sport Gewalt und wie wird ihnen geholfen?“ Klein hält die Möglichkeit falscher Anschuldigungen für deutlich geringer als die Gefahr, dass Betroffene allein gelassen werden in ihrem Leid.

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Der ehemalige Ruderer Simon gab zu Protokoll: „Rückblickend schaue ich auf eine Kultur des Wegsehens und Schweigens im Sportverein zurück, denn jeder dort hat die besondere Nähe des Trainers zu mir registriert, doch niemand hat etwas gesagt. Stattdessen wurde zugelassen, dass ich alleine mit dem Trainer ein Zelt teilen musste.“