Der frühere Manager des 1. FC Köln, SC Freiburg, FC Augsburg und DFL-Geschäftsführer kämpft entschlossen um die 50+1-Regel im deutschen Fußball.
„Politik muss helfen“Ehemaliger FC-Manager Andreas Rettig sieht den Fußball am Abgrund
Der Profi-Fußball steht im Zentrum eines Kampfes zwischen eigenständiger Tradition und Fremdbestimmung durch Investoren, die auch politische Interessen verfolgen. Bei der WM in Katar prallten diese Welten aufeinander. DFB-Präsident Bernd Neuendorf und Rudi Völler, Direktor Nationalmannschaft, sollen am Mittwoch im Sportausschuss des Bundestages das deutsche WM-Debakel erklären. Wir sprachen mit dem Kölner Ex-Manager und Systemkritiker Andreas Rettig über die Situation des Fußballs.
Herr Rettig, immer mehr Geld strömt in den Fußball. Ist das gut für die Branche – oder ihr Untergang?
Es ist unfassbar viel Geld unterwegs, das nach renditestarken Anlagezielen sucht – Vermarktungsstrategen in diesem Milliardengeschäft helfen dabei, diese zu finden und entfernen sich dabei vom Kern, dem Fußballspiel. Aber die Mechanismen der Realwirtschaft sind nicht eins zu eins auf den Profifußball zu übertragen, er ist ein besonderer Wirtschaftszweig.
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Was genau ist so besonders? Was unterscheidet die Bundesliga etwa vom Dax?
In einem klassischen Fußball-Verein sind die wichtigsten Akteure die Mitglieder. Ich erinnere zur Erklärung an den Herbst 2003, die Mitgliederversammlung des 1. FC Köln, als ich Geschäftsführer war. Wir standen nach dem Aufstieg wieder auf einem Abstiegsplatz. Mein Credo lautete und lautet bis heute: Es gibt keine Alternative zu wirtschaftlicher Vernunft. Dann kommt einer ans Mikrofon und sagt: „Herr Rettig, ich fordere Sie auf, geben Sie endlich mal Geld aus. Wenn der 1. FC Köln absteigt, verlieren wir rund 20 Millionen. Geben Sie lieber jetzt im Winter zehn Millionen aus, wir retten uns, und alles ist gut.“ Der Saal stand kopf. Und ich entgegnete: „Ich bin wirklich froh, dass wir so kluge Mitglieder haben. Aber unsere Mitbewerber, die haben genauso kluge Mitglieder. Die stellen dieselbe Rechnung auf. Und wenn jetzt jeder unserer Konkurrenten diese 10 Millionen investiert: Steigt dann keiner ab?“ Im Saal wurde es ruhiger. Der Fußball ist ein geschlossenes System. Wenn jeder alles richtig macht, steigen am Ende trotzdem zwei oder drei ab.
Im deutschen Fußball gilt grundsätzlich das 50+1-Prinzip, das die Mehrheitsübernahme von Investoren verhindert. Sie haben als Geschäftsführer des FC St. Pauli dafür gesorgt, dass die Regel geschützt bleibt.
Bei der DFL-Mitgliederversammlung 2018 haben wir vom FC St. Pauli in einer Nacht-und-Nebel-Aktion unseren Antrag zur Abstimmung gestellt und ein sportpolitisches Bekenntnis zu 50+1 gefordert. Das Datum hat sich bei mir eingebrannt. In den entscheidenden Fragen ist uns Hans-Joachim Watzke mit Borussia Dortmund zur Seite gesprungen und hat den Antrag unterstützt. Drei Vereine fehlten. Das Ergebnis: 18 Ja-Stimmen, vier Nein-Stimmen, der Rest Enthaltungen. Interessierte Kreise, die eher gegen die Regel waren, haben dann jedoch gefordert, man möge die Regel rechtssicherer machen und so landete dieser Vorgang beim Bundeskartellamt.
Das Kartellamt hat 50+1 für zulässig erklärt, allerdings Änderungen bei den Ausnahmen Leverkusen, Wolfsburg und Hoffenheim angemahnt.
Ich war erleichtert, als das Bundeskartellamt gesagt hat: 50+1 ist kartellrechtlich nicht zu beanstanden. Mit Ausnahme der Ausnahmen und dem Sonderfall Leipzig. Hier werden sich die drei Ausnahmeklubs und Rasenball bewegen müssen. Ob eine zeitnahe Verständigung möglich ist, wird man sehen. Es kann doch nicht sein, dass die DFL Spielregeln für alle erlässt bis zum Kamerawinkel und zur Rasenhöhe, aber bei der wichtigsten Frage, wer welche Gesellschafteranteile verkaufen darf, keine Regeln zulässt. Die einen durften sich zu 100 Prozent verkaufen. Die anderen hingegen nur 49,9 Prozent der Anteile mit Stimmrecht. Das ist eine eklatante Wettbewerbsverzerrung.
Wie stehen Sie grundsätzlich zu ausländischen Investoren?
Ich habe kein Problem mit Investoren. Die sollen alle schön die Kohle nach Deutschland bringen, nur weiß sollte sie sein (lacht). Aber sie müssen sich an die Spielregeln in Deutschland halten. Deshalb zitiere ich auch gern den Satz, den der ehemalige Verfassungsrichter Professor Udo Steiner, der heute als DFB-Jurist übrigens noch in Amt und Würden ist, 2011 gesagt hat: „50+1 ist ein Garant für den Erhalt der historischen, kulturellen und sozialen Wurzeln des deutschen Fußballs."
Und warum ist deren Erhaltung in einer sich rasant verändernden Welt so wichtig?
Das kann man am Beispiel des geplanten Einstiegs eines chinesischen Investors beim Hamburger Hafen erklären. Nach langem Streit soll er unter 25 Prozent liegen. Hier greift die Außenwirtschaftsverordnung. Die ist eingeführt worden, weil man das Land vor Nicht-EU-Investoren schützen will, wenn es um kritische Infrastruktur geht.
Bitte um Schutz beim früheren Wirtschaftsminister Peter Altmaier
Und das wünschen Sie sich auch für den Fußball?
Ich habe beim damaligen Wirtschaftsminister Peter Altmaier diesen Schutz auch für den Fußball angemahnt. Altmaier hat die Problematik verstanden, sich aber hinter der Autonomie des Sports versteckt. Dennoch würde ich heute noch einmal die Forderung erheben: Der Profifußball muss als schützenswertes Kulturgut denselben Schutz genießen wie die kritische Infrastruktur, Medien oder andere relevante Bereiche.
Damit nicht wie aktuell in Frankreich und England staatsnahe Investoren aus Katar und Saudi-Arabien nach den Klubs greifen können?
Das ist ein Stellvertreterkrieg, der hier geführt wird. Krieg bitte in An- und Abführung verstehen. Wir erleben einen Konflikt zwischen Demokratie und Autokratie. Der wird über den Fußball ausgetragen. Mich treibt sehr um, dass das gesellschaftlich nicht noch einen viel größeren Aufschrei nach sich zieht. Man hat schließlich bei der WM gesehen, wie ein autokratisches System, das die Menschenrechte nicht achtet, den Fußball als Bühne benutzt hat, sich zu feiern. Sogar mit Erfolg.
Und wie kann der Fußball das verhindern?
Er kann es nicht. Veränderungen können nur Zivilgesellschaften bewirken. Deshalb muss der gesellschaftliche Druck da sein, indem man Diktaturen und Autokratien solche Turniere vorenthält. Wenn man sich aber wie der Weltverband Fifa kaufen lässt und den Zirkus von Brot und Spielen auch in autokratischen Staaten stattfinden lässt, dann sagen sich die Menschen dort vielleicht: „So schlecht kann das ja gar nicht sein.“ Und es wird dort auch kein gesellschaftlicher Druck entstehen.
Im IOC und der Fifa haben die autokratischen Staaten aber eine Mehrheit.
Das ist der Punkt. Wir werden das ohne die Politik nicht mehr schaffen. Der Fußball wird sich aus eigener Kraft nicht erneuern können. Das meine ich vor allem mit Blick auf die aktuelle Kapitalschwemme und die geplante Super League. Der Fußball verdient sein Geld mit der Öffentlichkeit. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich einmal sage: Die Politik muss dem Fußball helfen durch direktive Vorgaben. Der Markt regelt das nicht.
Dazu bräuchte man aber ein Sportministerium, wie es zum Beispiel die Franzosen haben.
Das ist eine alte Forderung: Wieso muss der Sport eigentlich im Innenministerium angesiedelt sein? Verstehe ich nicht. Der Sport hat mit Gesundheit zu tun, mit Bildung, mit allen möglichen gesellschaftlichen Themen. Er hat für mich eine ressortübergreifende Bedeutung. Deshalb kann er nur im Kanzleramt sitzen.
Das würde den Sport insgesamt aufwerten.
Wie die Politik dem Sport helfen kann, das haben die Briten im Zuge der Olympischen Spiele 2012 in London gezeigt. Die haben den Sportunterricht an Schulen per Parlamentsbeschluss auf vier Stunden pro Woche erhöht. Das war ein Zeichen.
Davon sind wir in Deutschland aber meilenweit entfernt.
Eher Lichtjahre. Und ich finde das schlimm. Wenn ich mich umschaue, dass keiner mehr einen Purzelbaum machen kann, dass immer weniger Menschen schwimmen können, wie die Fettleibigkeit zunimmt. Das ist jämmerlich. Da erwarte ich auch im Hinblick auf die EM 2024, dass der Fußball als Lokomotive wirkt für den Sport insgesamt. Damit der Sport wieder einen anderen Stellenwert bekommt. Man kann Sport und Politik nicht trennen.
Also verlangen Sie von Sportlern, dass Sie sich gesellschaftlich äußern?
Wenn es um Fragen der Haltung geht und der gesellschaftlichen Ausrichtung, müssen die Verbände und deren Spitzenvertreter vorangehen. Das hätte ich mir auch bei der WM in Katar gewünscht. Wer als Sportler und Star seine Popularität über Social Media kapitalisiert, von dem erwarte ich, dass er sich zu gesellschaftlichen Themen eindeutig äußert. Ein Profi, der sagt: Ich spiele in erster Linie nur Fußball und mache sonst nichts, der muss sich nicht zu gesellschaftlichen Themen äußern.
Warum versuchen Sie nicht, den Kampf für einen gerechten Fußball mit einem Mandat innerhalb des DFB, der DFL oder auch im Namen einer Partei zu führen?
Der Entschluss, nach viereinhalb Jahren als Geschäftsführer beim FC St. Pauli aufzuhören, hatte rein familiäre Gründe. Ich wollte und musste wieder zurück nach Köln. Was die Stadt angeht, hätten meine Frau und ich Hamburg nie verlassen. Ich liebe den Fußball, bin Überzeugungstäter, bin aber ungeeignet für den diplomatischen Dienst. Ich kann mir leisten, nicht mit den Wölfen heulen zu müssen.