Eine Ruderin aus Köln und ein Leichtathlet aus Leverkusen wollen in einem halben Jahr in Paris auf Medaillenjagd gehen. Sie hatte einen Schlaganfall, ihm fehlt ein Unterschenkel.
Sportler aus Köln und Leverkusen„Ich will besser sein als die Leute mit zwei Beinen“
Vor zweieinhalb Jahren, am 1. September 2021, begann für die Kölnerin Kathrin Marchand ein neues, ein ganz anderes Leben. Die Ärztin und ehemalige Spitzenruderin erlitt einen Schlaganfall, sie war damals 30 Jahre alt. Die Powerfrau wurde zur Patientin. Am 1. September 2024, genau drei Jahre später, will Marchand bei den Paralympischen Spielen in Paris eine Medaille gewinnen. Als Ruderin im deutschen Mixed-Vierer mit Steuerfrau, an den Start geht sie für den RTHC Bayer Leverkusen. Als Sportlerin, die sich von unverhofften Einschränkungen ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit die Lust auf Bewegung nicht nehmen lässt. Als Frau und Ärztin, die immer zuversichtlich geblieben ist und ihr neues Leben zu genießen weiß.
Die Paralympischen Spiele von Paris werden in einem halben Jahr eröffnet, am 28. August, 17 Tage nach dem Ende der Olympischen Spiele. Seit den Sommerspielen 1992 in Barcelona gibt es ein Abkommen zwischen dem Internationalen Paralympischen und dem Internationalen Olympischen Komitee, dass die Spiele für Athletinnen und Athleten mit einer Körperbehinderung immer im Anschluss an die Olympischen Spiele am selben Ort stattfinden. Lange bekamen die Paralympics keine größere öffentliche Aufmerksamkeit. Das änderte sich erst mit den Spielen von London 2012, hier stieg das Interesse von Publikum und Medien sprunghaft an. Seither wird der paralympische Sport immer professioneller und die internationale Leistungsdichte immer größer.
Noah Bodelier aus Erkelenz war 13 Jahre alt, als ihm der linke Unterschenkel auf Grund einer Krebserkrankung amputiert wurde. Das war 2016, im Jahr der Olympischen und Paralympischen Spiele in Rio de Janeiro. Kathrin Marchand nahm damals zum zweiten Mal an Olympischen Spielen teil, sie ruderte mit Kerstin Hartmann im Zweier ohne Steuerfrau, das Duo kam auf Platz acht. Über die Paralympics wusste Marchand damals wenig. Sie informierte sich erst sechs Jahre später eingehend dazu, im Frühjahr 2022.
Auf beiden Augen fehlt ein Drittel des Sichtfelds
Seit dem Schlaganfall ist ihr Sehvermögen eingeschränkt, links oben fehlt ihr auf beiden Augen ein Drittel des Sichtfelds. Zudem hat sie eine leichte Hemiparese auf der linken Seite, sie ist links schwächer als rechts. „Im Einer würde ich im Kreis fahren“, sagt Marchand. Aufgrund dieser Lähmung wurde sie für den paralympischen Sport zugelassen, „klassifiziert“ heißt das im Fachjargon. Marchand fand den Weg in die paralympische Ruder-Nationalmannschaft. Und weil im Mixed-Vierer jemand ausfiel, landete sie schon 2022 im Team für EM und WM – und gewann Bronze und Silber. Im vergangenen Jahr holte der Vierer mit Marchand EM-Silber und WM-Bronze.
Jetzt hofft die heute 33-Jährige auf den Gewinn einer paralympischen Medaille. Sie arbeitet halbtags in der Orthopädie einer Privatklinik, aber von Juli bis September will sie sich ganz auf den Sport konzentrieren, dafür nimmt sie unbezahlten Sonderurlaub. Die Briten dominieren seit Jahren Marchands Bootsklasse. 2022 lagen sie am Ende der 2000-Meter-Strecke 14 Sekunden vor den Deutschen. 2023 waren es nur noch knapp fünf Sekunden. Aber auch die Amerikaner mischen noch ganz vorn mit. „Wir haben einen enormen Sprung gemacht“, sagt Marchand: „Das wird spannend werden in Paris.“
Noah Bodelier bekam nach der Amputation eine Beinprothese in jenem Sanitätshaus, in dem Markus Rehm arbeitet – einer der deutschen Paralympics-Superstars. Rehm trägt ebenfalls eine Unterschenkelprothese und ist Weltrekordhalter im Para-Weitsprung. Im vergangenen Jahr steigerte er seine Bestleistung auf 8,72 Meter. So weit ist noch kein Deutscher jemals gesprungen, auch kein Athlet mit zwei gesunden Beinen. Der olympische Weltrekord des Amerikaners Mike Powell steht seit 1991 bei 8,95 Metern. Rehm ist viermaliger Paralympicssieger und siebenmaliger Para-Weltmeister. Powells Rekord zu knacken, ist sein nächstes großes Ziel.
Markus Rehm also, der um die heilsame Kraft des Sports für Körper und Geist weiß, riet dem frisch amputierten Noah Bodelier, sich das Para-Leichtathletiktraining bei seinem Klub TSV Bayer Leverkusen anzusehen. Zwei Jahre später, 2018, wurde Bodelier Zweiter im Para-Weitsprung bei der Junioren-WM. Im vergangenen Jahr gab der heute 20-Jährige sein Debüt bei der Para-WM der Erwachsenen und wurde Achter. Seit diesem Winter trainiert er gemeinsam mit Rehm und dem griechischen Para-Weitspringer Stelios Malakopoulus bei der ehemaligen Speerwurf-Weltmeisterin Steffi Nerius. Sein großes Ziel ist es, sich für die Paralympics in Paris zu qualifizieren.
„Ich will besser sein als die Leute mit zwei Beinen“
Den Jura-Studenten treibt dabei weniger der Traum von der paralympischen Gold-Medaille an, als vielmehr die grundsätzliche Haltung, der Beste sein zu wollen. Seit er eine Unterschenkelprothese trägt, sagt er: „Ich will besser sein als die Leute mit zwei Beinen.“ Warum? „Man wird halt immer unterschätzt“, sagt Bodelier. Sein Abitur hat er 2021 mit der Note 1,0 abgeschlossen. Und das, obwohl er im letzten Schuljahr den Unterricht nahezu komplett von zu Hause aus online verfolgen musste. Sein Immunsystem ist durch die Chemotherapie nachhaltig geschwächt, Bodelier musste während der Corona-Pandemie besonders vorsichtig sein.
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Schönes Wochenende!
Im vergangenen Sommer ist Bodelier 6,80 Meter weit gesprungen. In diesem Winter hat er mit 6,97 Metern an der Sieben-Meter-Marke gekratzt. Zur Leistung von Markus Rehm fehlen Welten, das könnte demoralisierend wirken. Bodelier jedoch nimmt es als Ansporn. Immerhin trägt er beim Weitsprung an seinem gesunden Fuß das Gegenstück zu jenem Schuh, den Rehm beim Anlauf in den Tartan rammt. Die beiden haben ähnlich große Füße und Rehm fehlt der rechte, Bodelier der linke Unterschenkel.
Das Leben als Duracell-Häschen ist vorbei
Steffie Nerius traut dem Youngster zu, sich im Sommer auf eine Weite um 7,30 Meter zu steigern. Ob das dann für ein Paris-Ticket reicht, ist ungewiss, da die Vergabe vor allem von der Anzahl der deutschen Startplätze abhängen wird. Und die sei aktuell noch knapp bemessen, erklärt die Trainerin. Aber bei der WM Ende Mai im japanischen Kobe können weitere erobert werden.
Kathrin Marchand dagegen hat ihre Fahrkarte sicher. Aktuell absolviert sie mit ihren Teamkolleginnen und -kollegen ein erstes Trainingslager in Sevilla. Warum sie einen Schlaganfall erlitten hat, konnte nicht geklärt werden. Sie glaubt, dass es etwas mit ihrer damaligen Art zu Leben zu tun hatte. Sie arbeitete in einer Notaufnahme, mit Diensten 60 Stunden pro Woche. Sie trieb Sport, traf Freunde, Schlaf stand ganz unten auf ihrer Prioritätenliste. „Ich habe zu wenig auf mich geachtet, ich habe wie ein Duracell-Häschen gelebt“, sagt sie. Bis zum 1. September 2021.
„Danach habe ich schnell verstanden, dass ich nicht irgendwann geheilt sein werde. Ich werde mein Leben lang Beschwerden haben“, sagt sie. Mehr als einen Halbtagsjob schafft sie nicht, ihr Körper fordert Pausen. Der Sport ist ihr Ausgleich. Sich ganz darauf fokussieren, so wie vor den Olympischen Spielen von Rio – das will Marchand aber nicht: „Ich möchte auch in der Arbeitswelt integriert sein und Kontakt zu Kollegen haben.“ Dass sie heute sportlich, was die Medaillenausbeute angeht, dennoch erfolgreicher ist als in ihrer ersten Ruder-Karriere, nimmt sie zufrieden zur Kenntnis.
Damals trainierte sie dreimal am Tag, heute rund 15 Stunden in der Woche. Da zieht jeder Hobbysportler noch immer ehrfürchtig den Hut. Kathrin Marchand lächelt. Sie ruht in sich. Freut sich auf Paris. Und sagt: „Ich finde es ganz gut so, wie es gerade ist, trotz meiner Krankengeschichte.“