Südkoreas Trainer Colin Bell spricht vor dem Gruppenspiel gegen Deutschland über Hoffnungen, Enttäuschungen und eine Dreiklassengesellschaft.
Interview vor Spiel gegen DFB-FrauenSüdkorea-Trainer Colin Bell: „Wenn wir 5:0 gewinnen, sind wir weiter“
Der gebürtige Engländer Colin Bell ist seit 2019 Trainer der Frauen-Nationalmannschaft von Südkorea, dem letzten WM-Gruppengegner der DFB-Frauen am Donnerstag (12 Uhr, ZDF). Der 61-Jährige bestritt Ende der 1980er-Jahre einige Zweitligapartien für den FSV Mainz, arbeitete später im Frauenfußball als Trainer beim SC Bad Neuenahr und führte den 1. FFC Frankfurt 2015 als bislang letzten deutschen Klub zum Champions-League-Sieg.
Colin Bell, Südkorea galt als stärkster deutscher Gruppengegner, verlor aber gegen Kolumbien (0:2) und Marokko (0:1). Was ist schiefgelaufen?
Ich habe meine eigene Mannschaft hier nicht wiedererkannt. Wir haben noch nie so Fußball gespielt, wie in diesen beiden WM-Spielen! So eine Phase hatten wir in vier Jahren noch nicht, das kam völlig unerwartet. Wenn man lange als Trainer bei einer Mannschaft arbeitet, kann man eigentlich gewisse Tendenzen erkennen, aber das hatte sich nicht angekündigt. Wir hatten einige Tage vor WM-Start einen geheimen Test gegen die Niederlande bestritten und wirklich unheimlich aggressiv, taktisch sehr geordnet gespielt. So sind wir in das Spiel gegen Kolumbien gegangen, einen Gegner, den wir in- und auswendig kannten.
Da gab es dann einen umstrittenen Elfmeter für die Südamerikanerinnen.
Und danach war alles weg. Beim 0:2 schmeißt sich unsere Torhüterin noch selber den Ball rein. Nach diesem Spiel herrschte ein Gefühl wie bei einer Beerdigung. Ich habe versucht, die Stimmung wieder hochzubringen, aber das zweite Spiel gegen Marokko sind wir zu Beginn wie ein Freundschaftsspiel angegangen.
Südkorea-Trainer: Spielerinnen sind das körperliche Niveau der WM nicht gewohnt
Was haben Sie getan?
Ich war in der Halbzeit nur mit meinem Dolmetscher in der Kabine, aber das meiste habe ich auf Koreanisch gesagt: ‚Das seid ihr nicht!‘ Wie wir die letzten vier Jahren gespielt haben – wir hatten Japan im Finale der Asienmeisterschaft am Rande einer Niederlage – dürfen wir nicht gegen Marokko verlieren. Das war sehr, sehr enttäuschend. Solch ein Erlebnis hatte ich in meiner Laufbahn als Trainer selten.
Was könnten die Gründe sein?
Das hat meines Erachtens psychische Gründe, aber es kommen auch die physischen Ursachen hinzu. Die meisten meiner Spielerinnen sind dieses körperliche Niveau nicht gewohnt. Die Spiele in unserer Liga sind zu langsam, die Intensität im Training zu niedrig. Einige Akteure aus Südkorea kamen bei uns an, ohne die Wochen vorher einen einzigen richtigen Sprint gemacht zu haben. Nicht im Training, nicht im Spiel! Dann gelangt man in vier Wochen nicht auf Weltniveau.
Das klingt fast schon nach Aufgabe.
Nach dem Spiel gegen Marokko waren wir wirklich down. Aber als wir das Ergebnis von Deutschland gegen Kolumbien gehört haben, war die Stimmung sofort positiver. Wir wissen, dass sie unheimlich gering ist, aber wir haben noch eine kleine Chance. So bereiten wir uns jetzt vor. Ich kann natürlich nicht sagen, dass wir Deutschland 5:0 schlagen werden, um weiterzukommen.
Es geht also nur um die Ehre?
Noch einmal: Wenn wir 5:0 gewinnen, sind wir weiter. (lacht) Das ist zwar fast, aber nicht völlig unmöglich. In Südkorea waren viele Fans schon zufrieden, dass wir überhaupt bei der WM mitspielen. Mit einer solchen Haltung und Einstellung kann man aber nichts gewinnen – und das ist auch nicht mein Anspruch.
Colin Bell: Deutschland kann Weltmeister werden
Was trauen Sie dem DFB-Team zu?
Wenn sie weiterkommen, wird sich im Achtelfinale gegen Brasilien oder Frankreich zeigen, wie weit sie sind. Dann kann es auch zu Ende gehen. Für mich können sieben, acht Teams Weltmeister werden. Deutschland gehört mit seiner Qualität immer noch zu diesem Kreis. Ich finde nur, dass die Bundesliga an Stärke verloren hat. Die besten Spielerinnen konzentrieren sich auf den VfL Wolfsburg und FC Bayern, zwei absolute Topteams. Ich verstehe nicht, warum Vereine wie der SC Freiburg, Bayer Leverkusen oder auch der 1. FC Köln nicht sagen, dass sie auch angreifen wollen. Die Leistungsunterschiede sind zu groß. Dahinter noch Frankfurt und Hoffenheim mit ein bisschen Abstand – dann kommt der Rest. Das ist eine Dreiklassengesellschaft.
Sie haben noch Ihr Haus im Westerwald. Wollen Sie noch mal als Trainer in Deutschland arbeiten?
Man weiß nie, was kommt. Ich hatte nach der EM in England ein sehr interessantes Angebot aus Deutschland. Ein Vierjahresvertrag als Technischer Leiter. Natürlich denkt man dann wieder nach, weil Deutschland mir als junger Mann so viel gegeben und mein Leben verändert hat. Ein anderes Land wollte mich für denselben Zeitraum als Nationaltrainer holen. Beide Offerten waren sehr gut, aber letztlich gefällt es mir in Südkorea so gut, dass ich abgesagt habe. (RND)