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Jonas Vingegaard und Wout van AertDie Tour der zwei Gewalten

Lesezeit 4 Minuten
Vingegaard_Triumphbogen

Toursieger Jonas Vingegaarrd vor dem Triumphbogen in Paris.

Köln/Paris – Ganz in Gelb wird Jonas Vingegaard am Sonntag gegen 20 Uhr hinter der Ziellinie auf den von der Abendsonne illuminierten Champs-Élysées im Herzen von Paris empfangen. Seine Freundin Trine Hansen öffnet die Arme, sie trägt ein gelbes Kleid, seine zweijährige Tochter Frida ein riesiges Gelbes Trikot.

Das alles passt bestens zum Anlass des Tages an diesem Ort, denn auch Papa Jonas ist ja in diesen Dress gehüllt. Und sagt kurz darauf, nun definitiv als Sieger der 109. Tour de France feststehend, drei Mal in kurzer Folge das Wort „unglaublich“. „Mit Frida auf dem Arm hier zu sein – unglaublich“, das wiederholt er gleich noch mal, außerdem sei auch der Empfang seiner vielen tausend dänischen Landsleute hier in Paris, na klar, „unglaublich“. Tatsächlich wahr ist aber nun das, was Vingegaard kurz darauf realisiert: „Ich habe das größte Radrennen der Welt gewonnen. Das kann mir niemand mehr nehmen.“

Leicht, ruhig und schüchtern

Vingegaard, dieser sehr leichte, ruhige und schüchterne junge Mann von 25 Jahren aus Hillerslev im Norden Jütlands, hat das Rennen im Hochgebirge für sich entschieden. Dort war er der Fahrer, der einerseits nicht abzuhängen war und der andererseits an zwei Tagen – am Col du Granon in den Alpen und in Hautacam in den Pyrenäen – sogar auch das vor dieser Tour Undenkbare schaffte: Er ließ Tadej Pogacar stehen und brummte dem Slowenen etliche Minuten Rückstand auf. Pogacar wiederum ist der immer noch erst 23 Jahre junge slowenische Hochbegabte, der die Tour in den vergangenen beiden Jahren mit eisenhartem Regime gewann.

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Tour-Sieger Vingegaard mit Freundin Trine, Tochter Frida und Tour-Direktor Prudhomme

Auch in diesem Sommer übernahm Pogacar wieder das Gelbe Trikot des Zeitbesten, und zwar von Wout van Aert, einem Sprint- und Zeitfahr-Phänomen aus Belgien und einem Teamkollegen von Vingegaard bei Jumbo-Visma. Es geschah an Tag sechs in Longwy im Anschluss an einen Etappensieg Pogacars. Weil Pogacar am nächsten Tag hoch oben auf der Super Planche des Belles Filles in den Vogesen gleich noch mal die Tageswertung gewann, fehlte wohl auch Vingegaard die Fantasie dafür, dass ihm später doch noch der große Coup gelingen sollte.

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Die Wende kam am 13. Juli in den Alpen – und das hat viel mit dem Alleskönner van Aert zu tun. Er initiierte letztlich den Großangriff seiner Mannschaft, dem Pogacar gegen Ende hinauf auf den Granon nicht mehr folgen konnte. Der neue Tour-Sieger profitierte bei jener Team-Attacke allerdings auch von der selbstlosen Arbeit seines eigentlichen Kapitäns Primoz Roglic, der nach einem Sturz während der fünften Etappe nicht mehr in der Lage war, um den Sieg mitzufahren.

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Tour-Stars in Wertungstrikots: Pogacar, Vingegaard, van Aert (v.l.).

Für Vingegaard, der bis zum letzten Sommer immer wieder unter durch den Erwartungsdruck hervorgerufene Panikattacken litt, ist Roglic so etwas „wie mein großer Bruder“. Und ein Schutz vor ihn quälender Erwartungshaltung. Doch dann ergriff Vingegaard, der Tour-Zweite des Vorjahres, sich selbst besiegend, eben doch seine Chance, gewann die Etappe am Granon und eroberte das Gelbe Trikot. „Ich glaube nun mehr an mich und meine Fähigkeiten“, sagte Vingegaard am Samstag nach Rang zwei im Zeitfahren, vor ihm landete in Rocamadur nur van Aert.

Ein Tränen-Kreis schließt sich

Auch in Rocamadur bejubelten Trine und Frida als Erstes ihren Freund und Vater, was Vingegaard zu Tränen rührte. Damit schloss sich ein Kreis zur Teampräsentation am 29. Juni in Kopenhagen: Auch dort kullerten im Überschwang der Gefühle Tränen über Vingegaards Wangen, nachdem die Menge im Tivoli-Park begeistert seinen Namen skandiert hatte.

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Prost: Das Team Jumbo-Visma lässt seinen Kapitän, den Tourgewinner Vingegaard hoch leben.

Tine Hansen ist es auch, die Vingegaard die Angst vor dem Druck nahm, die ihn beruhigte, wenn er vor den Rennen vor Aufregung gar nicht aufstehen wollten und nicht essen konnte, weil er glaubte, er müsse Ergebnisse liefern, was bei ihm Versagensangst provozierte. Auch sein Team half ihm, in dem es ihm klar machte, dass Siege sich bei Jumbo-Visma auf viele Schultern verteilen sollen und eben nicht nur auf seine. „Jonas brauchte sehr viel Zeit, um Vertrauen zu sich selbst aufzubauen. Die haben wir ihm gegeben“, sagt dazu sein Entdecker und sportlicher Leiter Merijn Zeeman. Das habe ihn innerlich zur Ruhe kommen lassen.

Die Basis für den Erfolg

Und da war nach Roglics Ausstieg vor der 15. Etappe eben auch noch van Aert, der Vingegaard den Druck nahm. Van Aert war es, der Pogacar am vergangenen Donnerstag im Anstieg nach Hautacam müde fuhr. Vingegaard vollendete die Vorarbeit, ließ Pogacar erneut stehen, und legte damit endgültig die Basis für seinen Tour-Sieg.

In Paris durfte Jumbo-Visma am Sonntag das Gelbe sowie das Berg-Trikot (durch Vingegaard) und den grünen Dress des Punktbesten in Empfang nehmen, den sich der unermüdliche van Aert sicherte, der in den drei Tour-Wochen vielleicht sogar der beste von allen Fahrern war, weil er immer wieder allein die Initiative ergriff. Der nun deutlich selbstsicherere Vingegaard wiederum hat sich mit seiner Leader-Rolle offenbar schon angefreundet. Nun sagt er, befreit und selbstbewusst: „Ich möchte noch mehr Rennen gewinnen.“