Das große Duell dürfte auch die letzte Tour-Woche prägen. Am Dienstag könnte eine Vorentscheidung im Zeitfahren fallen.
Duell der UnzertrennlichenTour de France dank Vingegaard und Pogacar vor engstem Finale seit 1989
Sie sind nun schon mehr als 2600 Kilometer unterwegs, seit dem Start in Bilbao am 1. Juli. Sie haben die steilen Hügel des Baskenlandes passiert, die Pyrenäen, das Zentralmassiv, das Jura und am vergangenen Wochenende auch schon zwei Höhenmeter-Festivals in den Alpen.
Sie sind bis zum Ruhetag am Montag über 62 Stunden und 30 Minuten unterwegs gewesen im Rahmen von 15 Etappen. Aber die beiden großen Sieganwärter der 110. Tour de France sind in der Gesamtwertung nur durch die Winzigkeit von gerade einmal zehn Sekunden getrennt.
Tour de France so spannend wie zuletzt 1989
Was den Schluss zulässt, dass Jonas Vingegaard und Tadej Pogacar im Augenblick so gleichwertig sind wie identisch programmierte Roboter. Aber noch führt Vingegaard, der Titelverteidiger aus Dänemark und startet im Gelben Trikot ins Zeitfahren des Dienstags und damit in die letzte Woche dieser Tour, die verspricht die spannendste seit 1989 zu werden.
Damals lösten sich Greg Lemond (USA) und Frankreichs Liebling Laurent Fignon als Träger des Maillot Jaune regelmäßig ab. Die beiden trieben ihr fabulöses Duell derart auf die Spitze, dass Lemond am letzten Tag der Tour den bis dahin führenden Fignon im Rahmen eines spektakulären Zeitfahrens, das auf den Champs-Élysées von Paris endete, doch noch abfing und ihn um acht Sekunden distanzierte. Es ist dies der bisher geringste Abstand eines Tour-Siegers zu seinem ersten Verfolger.
Die Titelfavoriten verfügen über die besten Teams
Pogacar, der slowenische Sieger der Tour der Jahre 2021 und 2022 und der Zweite des Vorjahres hinter Vingegaard, gefällt sich weiterhin in der Rolle des Angreifers, der er auch in den beiden Alpen-Etappen war. Er sagte schon am ersten Ruhetag vor einer Woche: „Mit Vingegaard sende ich täglich ein paar Bomben in Form von Attacken ab und ich freue mich schon auf die nächsten Tage.“ Pogacar, ein immer noch erst 24-jähriger Spaßvogel auf dem Rad, endschnell, ausgestattet mit grandiosen Fähigkeiten im Gebirge, hat es in den Alpen genauso gehalten: Knallkörper zünden, angreifen, losjagen.
Doch Vingegaard, ein Stoiker mit den Kletterqualitäten eines Yetis (und das auf dem Rad), ließ sich bisher nicht abhängen. Er fand immer eine Antwort auf die Angriffe des Slowenen. Vingegaard sagt zu dem bevorstehenden Spektakel in der Schlusswoche: „Für euch, die Zuschauer, wird es sehr viel Spaß machen, unseren Zweikampf weiter zu beobachten.“
Dass die beiden derzeit in einer anderen Welt unterwegs sind, wie der Rest des Pelotons hat viele Gründe, die in ihrem Talent und ihrer Gabe, besonders leidensfähig zu sein, begründet liegen. Aber auch in der Klasse ihrer Mannschaften, die beide – Vingegaards Team Jumbo-Visma und Pogacars UAE-Emirates-Auswahl – die besten der Welt sind, die „Benchmark“, wie es Ralph Denk ausdrückt, der Chef des deutschen Teams Bora-hansgrohe: „Die sind uns allen voraus, daran müssen wir uns orientieren.“ Beide Teams sind mit Fahrern bestückt, die zum Teil ebenfalls Chancen auf einen Podiumsplatz der Tour hätten, die sich nun aber, bestens entlohnt, in den Dienst ihrer Kapitäne stellen. Was das Spektakel erhöht und die Anzahl der Konkurrenten minimiert.
Kampf um jede Bonus-Sekunde
Zuletzt entwickelte sich auch der Kampf um die Bonussekunden zwischen Vingegaard und Pogacar zu einer ausgeglichenen Angelegenheit. Eigentlich ist Pogacar ausgestattet mit den Instinkten und der Startgeschwindigkeit eines Sprinters. Doch am Samstag, oben auf dem Joux Plane, luchste auf einmal Vingegaard seinem Konkurrenten nach einem Bergaufsprint die ausgelobten zehn Bonussekunden ab, während wiederum Pogacar den Endspurt ins Ziel gewann, wofür er sich vier Sekunden gutschreiben ließ. Bedeutete im Gesamtergebnis: Vingegaard führt mit zehn Sekunden, von denen er am Sonntag keine einzige einbüßte.
Am Dienstag also steht nun das einzige Zeitfahren dieser Tour auf dem Tagesplan. Es ist nur 22 Kilometer kurz, aber sehr schwer, es führt über viele Wellen und Hügel hinauf auf eine Rampe mit einem sechs Kilometer langen Anstieg nach Combloux, gelegen auf knapp 1000 Metern Höhe. Auch in dieser Disziplin sind Vingegaard und Pogacar Spezialisten und in etwa gleich einzuschätzen. Es ist gut möglich, dass sich die Kontrahenten weiter im Rahmen von wenigen Sekunden voneinander bewegen.
Ultimative Prüfung am Mittwoch
Am Mittwoch dann dürfte die ultimative Prüfung anstehen, gefordert ist der Weg auf das diesjährige Dach der Tour, es geht über den 2304 Meter hoch gelegenen Loze-Pass. Den erreichen die Fahrer nach einer Kletterfolter von 28,1 Kilometern mit sechs Prozent durchschnittlicher Steigung. Ein Terrain, das dem puren Bergfahrer Vingegaard grundsätzlich ganz besonders entgegenkommt. Pogacar bezeichnet diese Prüfung als „einen der schwersten Anstiege der Welt“. Auch danach bliebe bei Fast-Gleichstand noch eine Möglichkeit zum Angriff, sie versteckt sich auf der vorletzten Etappe, die ein Kletterfestival in gleichwohl nicht allzu steilem Vogesen-Terrain darstellt.
Angesichts des bisherigen engen Verlaufs und der Stärke der Duellanten ist nicht auszuschließen, dass ein finales Attacken-Konvent von Belfort nach Le Markstein über sechs kategorisierte Anstiege bevorsteht. Und eine auch dort fortgesetzte Hatz nach Sekunden zu erwarten ist. Angesichts der bisherigen Eindrücke ist gleichwohl nicht zu prognostizieren, wer am Ende am 23. Juli im Gelben Trikot Paris erreichen wird, das Ziel der finalen Etappe.