Massives ProblemWarum Kita-Kinder in NRW immer schlechter Deutsch sprechen
- Das Problem betrifft nicht nur Kinder mit Migrationshintergrund, sondern auch viele deutsche Kinder, die zu viel Zeit vor Fernseher oder Tablet sitzen.
Sabine Schäfer ist Leiterin von zwei Grundschulen in Coesfeld und Dülmen im Münsterland. „Derzeit finden bei uns wieder die Aufnahmegespräche für die Schüler statt, die 2023 eingeschult werden sollen“; berichtet die Pädagogin dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Die meisten Kinder seien fit für die Grundschule. „Aber bei etwa einem Drittel der Kinder stellen wir Auffälligkeiten fest“, sagt Schäfer.
Das hänge zum Teil damit zusammen, dass viele Kinder heute schon mit fünf Jahren eingeschult würden. „Aber viele Defizite haben eine andere Ursache“, so die Rektorin.
In NRW gibt es rund 2700 Grundschulen. Fast alle Klagen über ein zentrales Problem, das den Unterricht erschwert. „Mangelnde Sprachkompetenz ist in den vergangenen Jahren zunehmend zu einem Problem geworden. Viele Kinder wissen zum Beispiel nicht, ob es, die ‚Kuh‘, ,der Kuh‘ oder ,das Kuh‘ heißen muss“; berichtet Sabine Schäfer. Das betreffe nicht nur Kinder mit Migrationshintergrund, sondern auch viele deutsche Kinder, die zu viel Zeit vor Fernseher oder Tablet sitzen. „Solche Defizite sollten eigentlich in den Kitas auffallen. Aber vielen Kitas fehlt Fachpersonal, um die sprachliche Entwicklung zu fördern. Das Problem schlägt dann an den Grundschulen auf. Wer die Sprache nicht beherrscht, hat es deutlich schwerer, im Unterricht mitzukommen“, so die Rektorin.
Finanzspritze zur Stärkung der Bildungschancen
Wenn Kinder zur Grundschule kommen, sollten sie korrekten Sätzen sprechen und einfache Nebensätze bilden können. Oft sind sie damit aber überfordert. „Oma auch Apfel essen“, heißt es zum Beispiel. Jedes fünfte Kita-Kind spricht zu Hause kein Deutsch. „Da redet man zum Teil wie gegen eine Wand“, sagt eine Lehrerin aus Köln-Ossendorf.
Das Problem der mangelnden Sprachkompetenz ist den verantwortlichen Ministerien seit langem bekannt. In den vergangenen Jahren wurden verschiedene Konzepte auf den Weg gebracht, die dem Problem begegnen sollen. 2700 Einrichtungen in Brennpunkten erhalten als „PlusKitas“ eine Finanzspritze zur Stärkung der Bildungschancen. Zudem wurden rund 1700 Kindertageseinrichtungen zu „Sprach-Kitas“ entwickelt. „Ein Tropfen auf den heißen Stein“, klagt eine Kita-Leiterin. „Denn gefördert wird lediglich eine halbe Stelle pro Einrichtung.“
„Nur die halbe Wahrheit“
Wie groß ist der Bedarf tatsächlich? Diese Frage lässt NRW-Kinderministerin Josefine Paul auf Nachfrage offen. Die Grüne verweist darauf, das Land habe sich gerade mit dem Bund über die Fortsetzung der Finanzierung bei den Sprach-Kitas geeinigt. „Es ist gut, dass es für dieses wichtige und von allen Seiten hochgelobte Programm endlich eine konkrete Perspektive für einen Übergang gibt. Denn eine Lösung ist - gerade mit Blick auf die engagierten Fachkräfte in den Kitas - dringend nötig“, so Paul.
Für die Opposition im Düsseldorfer Landtag enthält diese Erfolgsmeldung allerdings nur die halbe Wahrheit. „Die Landesregierung hat sich viel zu spät dazu durchgerungen, die Förderung der Sprach-Kitas fortzusetzen“, kritisiert Dennis Maelzer, Kita-Expert der SPD. „Weil Ministerin Paul zu lang gezögert hat, haben sich die Fachkräfte, deren Arbeit mit Gold aufzuwiegen ist, in Scharen neue Jobs gesucht. Dieses eklatante Politikversagen haben nun Kinder, Eltern und Erzieher und Lehrer auszubaden.“
Flucht aus Ukraine hat Auswirkung auf Kitas
An den Kitas von NRW werden etwa 750.000 Kinder betreut, davon 535.000 im Ü3-Bereich, 216.000 sind unter drei Jahre alt. Das System der frühkindlichen Bildung im Land ist auf Kante genäht, denn es gibt nur etwa 150.000 Erzieher. Die Aufnahme von Kindern aus der Ukraine, die durch die Fluchterfahrung traumatisiert sind, verstärkt jetzt den Druck.
Die Landesregierung dürfe die Regeleinrichtungen nicht im Stich lassen, verlangt Maelzer. „Die Zuwanderung von Kindern aus Kriegsgebieten, die durch die Fluchterfahrung traumatisiert sind, stellen die Kitas jetzt vor große Herausforderungen“. Maelzer hat jetzt eine Kleine Anfrage an die Landesregierung gerichtet. „Wieviele Kinder aus der Ukraine werden in NRW betreut?“, lautet die Überschrift.
24.400 Fachkräfte fehlen
Lisa Meyer (Name geändert) ist die Leiterin einer Kita in Bergisch Gladbach. Sie versucht, die Sprachförderung im Kita-Alltag so gut wie irgend möglich umzusetzen, also auch beim Essen, Basteln oder im Sand buddeln. Zudem gibt es eine „Sprach- und Klangwerkstatt“. „Wenn es gut läuft, ist diese mit einer pädagogischen Fachkraft besetzt, die dort vertieft mit Kindern arbeitet, die einer gezielteren Förderung bedürfen“, sagt Meyer. Bei Personalmangel, der herrsche eigentlich ständig herrsche, sei der Bereich aber auch oft nicht besetzt. Dann müssten Alltagshelfer eingesetzt werden. „Da ist es oft nahezu unmöglich, eine vertiefte Sprachförderung konsequent durchzuführen“, sagt die Kita-Chefin.
Laut der Bildungsgewerkschaft GEW fehlen alleine im kommenden Jahr in NRW 100.000 Kitaplätze und 24.400 Fachkräfte. „Die Kolleginnen und Kollegen vor Ort rotieren und versuchen alles zu ermöglichen, aber sind natürlich völlig überlastet“, sagt GEW-Vorsitzende Ayla Çelik. Das beschleunige die soziale Schieflage, die erst kürzlich wieder durch den IQB-Bildungstrend unterstrichen worden sei: „Kinder aus wenig privilegierten Haushalten haben immer schlechtere Bildungschancen. Sprache ist der Schlüssel zur gleichberechtigten Teilhabe und sie legt den Grundstein für eine gelingende Bildungsbiographie.“
Bis zum Jahr 2013 wurden die Sprachkenntnisse der Kita Kinder durch den Sprachstandstest „Delfin 4“ abgefragt, der durch Grundschullehrer durchgeführt wurde. Der Test wurde anhand eines Brettspieles, das sich mit dem Thema „Besuch im Zoo“ beschäftigte, durchführt. Die Durchfallquoten waren erschreckend, in Köln kamen zum Teil nur 20 Prozent der Kinder auf die volle Punktzahl. Doch statt wirksam gegenzusteuern, schaffte Rot-Grün die Erhebung, die der frühere Jugendminister Armin Laschet (CDU) initiiert hatte, wegen der angeblich zu geringen Aussagekraft kurzerhand wieder ab.
Manche Experten bezweifeln, dass das eine gute Idee war. Denn die Verantwortung für die Sprachstandstests wurde seitdem bei den Erzieherinnen abgeladen. Nur die Kinder, die nicht in der Kita sind, werden noch nach „Delfin 4" getestet.
In den Pandemiejahren war das Sprachstandsfeststellungsverfahren jedoch nur eingeschränkt möglich. 2021 sank die Zahl der Tests nach Auskunft der Landesregierung fast um die Hälfte auf 5172. „Das bedeutet, dass möglicherweise bei tausenden Kindern ein Förderbedarf nicht erkannt wurde", so der SPD-Politiker Maelzer. Dies sei ein dramatischer Befund.
Die FDP im Düsseldorfer Landtag fordert Kita-Ministerin Paul jetzt auf, ein neues Konzept für die Sprachförderung vorzulegen. „Wir brauchen dringend mehr Personal und Investitionen in die sprachliche Förderung unserer Kinder“, sagt der Landtagsabgeordnete Marcel Hafke. „Um in Zukunft besser überprüfen zu können, wie sich die sprachliche Entwicklung der Kindergartenkinder entwickelt, benötigen wir ein regelmäßiges Monitorring und eine Überprüfung der alltagsintegrierten Sprachförderung“, erklärte der Politiker aus Wuppertal. Die Landesregierung dürfe sich nicht auf dem Status Quo ausruhen. Es gehe um die Bildungs- und Lebenschancen der Kinder.
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In der Ukraine gibt es übrigens ein differenziertes Kita-System. Das Personal verfügt oft über eine universitäre Ausbildung. „An den meist guten Voraussetzungen, die Flüchtlingskinder in der Regel mitbringen, sollten die Kitas in NRW anknüpfen“, sagt der SPD-Experte Maelzer. „Es wäre fatal, wenn gute Anlagen durch ein Organisationsversagen der Landesregierung vor die Wand gefahren würden.“