Armut und Gesundheit„Die Politik muss Sport für alle bezahlbar machen“
Medizinsoziologin Simone Weyers spricht über adipöse Grundschüler, zu teure Krabbelgruppen und die Bedeutung des Frühstücks. Sie forscht an der Universität Düsseldorf zu den sozialen Einflüssen von Gesundheit und Krankheit.Frau Weyers, welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Einkommen und der Gesundheit eines Menschen?
Arme Menschen haben ein höheres Risiko, krank zu werden. Auch im reichen Deutschland. Der Soziologe Andreas Mielck hat drei Faktoren festgemacht, wie der soziale Status die Gesundheit eines Menschen beeinflusst. Erstens: die Umgebung. Gibt es einen Park in meiner Nähe? Helfen mir meine Nachbarn, wenn es mir schlecht geht? Zweitens: individuelles Verhalten, also wie ich mich ernähre und bewege. Der dritte Faktor ist die Versorgung. Wie oft gehe ich zum Arzt? Gibt es überhaupt genug Praxen in meinem Viertel? Diese Faktoren bedingen sich. Aber es gibt auch eine umgekehrte Wirkung: Menschen, die gesundheitlich beeinträchtigt sind und vielleicht ihren Beruf nicht mehr ausüben können, sind gleichzeitig gefährdeter, in die Armut abzurutschen.
Wie ist die Situation bei Kindern?
Insgesamt erfreuen sich Kinder in Deutschland einer guten Gesundheit. Wir beobachten aber, dass es einen Wechsel von den akuten zu den chronischen und von den körperlichen zu den psychischen Krankheiten gibt. Dies sind beispielsweise Übergewicht, Entwicklungsverzögerungen und Verhaltensauffälligkeiten.
Bei allen Kindern?
Nein, diese Probleme sind sozial ungleich verteilt. Bei der Untersuchung zum Schulstart haben wir festgestellt, dass Kinder aus „bildungsfernen“ Familien doppelt so häufig von Übergewicht betroffen sind wie Kinder aus „bildungsnahen“ Familien. Übergewicht wiederum begünstigt Folgekrankheiten. Ein Viertel der Kinder bleibt auch als Erwachsener adipös.
Worauf führen Mediziner dieses Übergewicht in jungen Jahren zurück?
Hauptsächlich auf ungesunde Ernährung und mangelnde Bewegung. Auch während der strengen Pandemie-Beschränkungen sind sehr viele Bewegungsangebote weggefallen. Viele Kinder konnten monatelang nicht zum Sport gehen. Das wird sich vermutlich negativ auf ihre Gesundheit auswirken. Wer sich nicht ausreichend bewegt, ist motorisch im Nachteil: Koordination, Gleichgewichtssinn und Ausdauer leiden.
Es gibt in Schulen und Vereinen schon viele Angebote: von Krabbelgruppen über Schwimmkurse bis zu jeglichen Sportarten. Warum reichen sie nicht aus?
Weil Eltern aus bildungsfernen Milieus die Angebote nicht im gleichen Maße wie andere für ihre Kinder nutzen. In einer Studie haben wir direkt gefragt, warum nicht. Die häufigste Antwort: kein Interesse. Eine andere häufige Antwort: zu teuer.
Was leiten Sie daraus ab?
Die erste Antwort führt uns zum Thema Gesundheitskompetenz. Einigen fehlt das Bewusstsein dafür, wie wichtig Bewegung ist. Andere finden sich im Dschungel der Gesundheitsinformationen nicht zurecht – und wissen dann zum Beispiel nicht, wo Sportangebote vorgehalten werden. Für noch entscheidender halte ich aber den finanziellen Aspekt.
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Arme Familien können sich ein gesundes Leben nicht leisten?
Ja, dieser Punkt ist mir ganz wichtig und kommt in der öffentlichen Diskussion häufig zu kurz. Wir haben ermittelt, dass selbst ein ermäßigter Krabbelkurs durchschnittlich bis zu 20 Prozent des frei verfügbaren Einkommens einer alleinerziehenden Familie mit SGB-II-Bezug, also Hartz IV, ausmacht. Das gleiche gilt für gesunde Lebensmittel. Ökotrophologen haben berechnet, dass Familien mit SGB-II-Bezug schon ab dem dritten Lebensjahr des Kindes 50 Cent pro Tag fehlen, um es gesund zu ernähren.
Was müsste sich ändern?
Ein Ansatzpunkt ist das gesunde Frühstück. Warum gibt es immer noch Kinder, die mit leerem Magen in den Schultag starten? Manche Schulen und Kindergärten stellen dank Spenden und privatem Engagement morgens Essen zur Verfügung. Ich wünsche mir ein Gesetz, dass jedem Kind ein gesundes Frühstück ermöglicht. Außerdem müssen mehr Bewegungsangebote in die Lebensräume der Kinder kommen, also in die Schule und die direkte Nachbarschaft. Aber nochmal: Die Politik muss diese Angebote auch für alle Familien bezahlbar machen.