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Anti-Gewalt-ProgrammGewalttätige Mädchen sind Täterin und Opfer zugleich

Lesezeit 5 Minuten

Melanie Gehring-Decker und Anna Herrmann leiten das Anti-Gewalt-Programm für Mädchen.

Köln – Sie vermittele keine Mädchen, sagt Melanie Gehring-Decker abweisend beim ersten Telefonat. Gesucht ist eine junge Frau, die für diesen Artikel ihre Geschichte erzählt. So funktioniert eine Recherche: Die Journalistin braucht eine Person, anhand der sie ein größeres Problem erklärt. Diesmal soll es um Mädchen gehen, die wegen Gewaltverbrechen verurteilt wurden.

Gehring-Decker hat das Kölner Anti-Gewalt-Programm für Mädchen im Alter von 14 bis 21 Jahren entwickelt und leitet es. Zu ihr kommen Mädchen, die andere Mädchen gezwungen haben, Urin zu trinken. Die ihren Opfern in der Öffentlichkeit das T-Shirt zerrissen haben, so dass sie im BH an der Bushaltestelle standen. Die anderen die Haare abgeschnitten haben. Sie irgendwohin bestellt, dann eingesperrt und über Stunden gequält haben. Gewalttätig sind sie oft aus den gleichen Gründen wie Jungen: Ehre, Eifersucht, Status. Eine andere Frau hat den Partner angeflirtet. Jemand hat die Familie, das Mädchen selbst oder ihre beste Freundin beleidigt.

Vielen fehlt eine Tagesstruktur

Auf ein Treffen ohne eine ihrer Klientinnen lässt sich Gehring-Decker hingegen ein. Und desto länger sie und ihre Kollegin Anna Herrmann in einem Besprechungsraum der AWO bei grellem Licht und Kräutertee erzählen, desto klar wird, warum sie die Mädchen trotz ihrer teilweise grausamen Taten vor der Öffentlichkeit beschützen. „Jedes Mädchen, das zu uns kommt, ist immer auch Opfer“, sagt Gehring-Decker. „Nur ist ihnen das oft nicht klar.“ Und sie drosselt gleich zu Beginn des Gesprächs die Erwartungen: Die Leserinnen und Leser dieses Textes sollen nicht glauben, dass die Klientinnen nach 100 Stunden – der Umfang des halbjährigen AWO-Programms – keine Straftaten mehr begehen. Und dann erzählt sie.

Oft dauere es Wochen bis die jungen Frauen überhaupt über die Tat reden, wegen der sie ein Richter zum Anti-Gewalt-Training verurteilt hat. Bei den wöchentlichen Treffen mit höchstens sechs Teilnehmerinnen freuen sich Herrmann und Gehring-Decker erst einmal, wenn sie regelmäßig kommen. „Vielen fehlt die Tagesstruktur. Sie sind arbeitslos oder gehen nur unregelmäßig zur Schule“, sagt Herrmann. Was besprochen wird, hängt von den jungen Frauen ab. „Wenn zum Beispiel ein Mädchen mit einem blauen Auge kommt, sprechen wir sie darauf an.“ Eine häufige Antwort: „Ich war frech zu meinem Freund.“ Das Rollenbild unter den Teilnehmerinnen sei oft sehr veraltet. Der Mann als Versorger und Beschützer, dem auch mal die Hand ausrutschen kann. Dass Frauen sich schlagen, hat nichts mit Emanzipation zu tun, sind sich die Pädagoginnen einig.

Die Konfrontation mit den Taten funktioniert bei Mädchen nicht

Kommt das Thema häusliche Gewalt auf, hoffen Gering-Decker und Herrmann auf eine Diskussion unter den Mädchen. Über die eigenen Grenzen und Gefühle, über die die Mädchen nie gelernt haben zu reden oder nachzudenken. „Wir versuchen es dann oft mit einem Perspektivwechsel: Stell dir vor, du hast eine Tochter. Fändest du es okay, wenn ihr Freund sie schlägt?“

Außerdem stehe immer die Frage im Raum, was Gewalt denn eigentlich ist. „Viele sagen: Erst ein Nasenbruch ist Gewalt“, sagt Herrmann. Dabei beginnt Gewalt aus psychologischer Sicht viel früher – beim Wort. Beleidigungen, Bedrohungen und Mobbing gehören, seit sie klein sind, zum Alltag ihrer Klientinnen. 90 Prozent der gewalttätigen Mädchen kommen aus gewaltbelasteten Familien, schätzen Experten, viele haben Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt.

Was unterscheidet Jungen- und Mädchengewalt? Anruf bei Anja Steingen. Die Psychologin hat das Kölner Programm mitentwickelt und gibt heute Fort-und Weiterbildungen über Gewalt und Anti-Gewalt-Arbeit. „Jungen suchen sich oft zufällige Opfer. Mädchen kennen ihre Opfer in der Regel und planen ihre Taten eher.“ Bei Jungen helfe es oft schon, wenn man sie noch einmal mit den Folgen für das Opfer in Kontakt bringt. Wie schmerzhaft und langwierig ein gebrochener Kiefer sein kann. Da heiße es oft: Das wollte ich nicht. „Bei den Mädchen löst die Konfrontation mit der Tat anfangs eher Genugtuung aus.“ Sie müssten sich oft erst einmal über ihre eigenen Gefühle klar werden, bevor sie Mitgefühl empfinden können.

Jugendgewalt nimmt ab

Auch die Justiz hat Mädchen lange anders behandelt. Sie wurden früher schneller – also nach weniger Vergehen – bestraft als Jungen. Bei Jungen gehörte Gewalt lange zum Aufwachsen dazu, sagt Steingen. „Die Mädchen kamen mit ein bis zwei Straftaten zu uns, die Jungen oft schon mit einer dicken Akte.“ Mittlerweile sei das anders, weil man erkannt habe, dass auch Jungen früh Hilfe brauchen, wenn sie sich aus der Gewaltspirale befreien sollen.

Und das gelingt durchaus. Wirft man einen Blick in die Polizeistatistik, nimmt die Jugendgewalt seit Jahren ab. In der Kölner Jugendkriminalstatistik von 2020 machen die Unter-21-Jährigen bei den Gewaltverbrechen etwa ein Viertel aus. Etwa 15 Prozent der angezeigten Verbrechen wurden von Täterinnen begangen.

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Ein gewaltfreies Leben. Das wünschen sich alle drei Anti-Gewalt-Expertinnen für die Mädchen. Manchmal stehe plötzlich ein Mädchen vor der Bürotür und brauche einen Platz im Frauenhaus. Weil sie endlich raus will aus ihrer Familie oder ihrer Beziehung – um die Gewalt hinter sich zu lassen. Aber die Regel ist das nicht. „Beim Partner scheitern wir oft“, sagt Gehring-Decker. „Selbst wenn die Mädchen sich am Ende unserer Treffen ändern wollen. Ihren gewalttätigen Freund verlassen nur die wenigsten.“ Die emotionale Bedürftigkeit sei zu hoch.

So können Sie helfen

Mit unserer Aktion „wir helfen: damit unsere Kinder vor Gewalt geschützt werden“ bitten wir um Spenden für Projekte, die sich für ein friedliches und unversehrtes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in unserer Region einsetzen.

Die Spendenkonten lauten: „wir helfen - Der Unterstützungsverein von M. DuMont Schauberg e. V.“

Kreissparkasse Köln, IBAN: DE03 370 502 990 000 162 155

Sparkasse Köln-Bonn, IBAN: DE21 370 501 980 022 252 225