KinderarmutGut gemeint ist nicht gut genug
Köln – Die gute Nachricht zuerst: Während ihre Vorgängerin das Wort „Kinderarmut“ in ihrem Koalitionsvertrag an keiner einzigen Stelle erwähnt hat, widmet die neue Bundesregierung dem brisanten Thema jetzt immerhin ein eigenes Kapitel. „Recht so“, sagen Kinderschützer, „allerhöchste Zeit“! Denn arme Kinder bräuchten dringend politische Hilfe – nicht erst seitdem sich ihre Zahl mit rund drei Millionen auf einem „skandalös hohen Niveau“ eingependelt hat. Die schlechte Nachricht aber: Die meisten Experten sind sich einig, dass das sogenannte Maßnahmenpaket gegen Kinderarmut für eine wirksame Bekämpfung des Problems nicht ausreicht.
Wir haben die konkreten Vorschläge der Regierung – und die Einschätzung von Experten zusammengefasst:
Kinderzuschlag und Kindergeld erhöhen
Das sagt die Regierung
„Das Kindergeld werden wir in dieser Legislaturperiode pro Kind und Monat um 25 Euro erhöhen (derzeit 194 Euro für das erste und zweite Kind, 200 Euro für das dritte und 225 Euro ab dem vierten Kind). Gleichzeitig steigt der steuerliche Kinderfreibetrag entsprechend. Zur Entlastung einkommensschwacher Familien, insbesondere alleinerziehender und kinderreicher Familien, wollen wir den Kinderzuschlag erhöhen. Gemeinsam mit dem Kindergeld soll der Mindestbedarf des sächlichen Existenzminimums (derzeit 399 Euro) gedeckt werden.“
Das sagen Experten
Kinderschützer des Kölner Kinderrechteforums (KRF) begrüßen eine Kindergelderhöhung, bemängeln aber, dass die geplanten zusätzlichen 25 Euro bei Hartz-IV-Empfängern wieder abgezogen werden. „So kommt das Geld nicht dort an, wo es wirklich gebraucht wird, bei den von Armut betroffenen Familien“, sagt KRF-Geschäftsführer Üwen Ergün. Kurzgesagt: „Die Idee ist super, an der Umsetzung scheitert es leider.“
Der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge ist der Meinung, dass die Erhöhung des Kinderzuschlags eher dazu diene, die Statistik zu bereinigen, als dass sich dadurch die Lebenssituation der betroffenen Kinder wesentlich verbessere. „Man möchte verhindern, dass Alleinerziehende und deren Kinder in der Hartz-IV-Statistik auftauchen. Zwar haben sie mit dem Kinderzuschlag ein paar Euro mehr als mit Hartz IV, befinden sich damit aber immer noch unterhalb der EU-offiziellen Armutsschwelle.“
Dass keine automatische Auszahlung des Kinderzuschlags vereinbart wurde, betrachten Experten der Heinrich-Böll-Stiftung als „zentralen Webfehler im Vertrag“ – abgesehen davon, dass die geplanten Leistungen zu gering seien und zeigten, „dass weiter davon ausgegangen wird, dass der Kinderzuschlag nur von rund 30 Prozent der Anspruchsberechtigten ausgeschöpft wird.“
Der Verband alleinerziehender Mütter und Väter e.V. (VAMV) fordert weitere Reformen, damit ein erhöhter Kinderzuschlag auch wirklich bei der Mehrheit der in Armut lebenden Kinder ankommt. Denn obwohl Einelternfamilien überproportional armutsgefährdet seien, erhielten sie häufig gar keinen Kinderzuschlag und profitierten kaum von höherem Kindergeld.
„Keine Ausreden mehr! Armut von Kindern und Jugendlichen endlich bekämpfen!“ – Im Fokus der gemeinsamen Kampagne von Diakonie Deutschland, Nationaler Armutskonferenz, Kinderschutzbund und Kinderhilfswerk steht die Forderung nach einer einheitlichen Geldleistung für alle Kinder, die das Existenzminimum sichert. Die Hartz-IV-Sätze für Kinder seien viel zu gering, basierten auf ungenauen Rechnungen und willkürlichen Abschlägen. „Arme Familien müssen mindestens in gleicher Weise gefördert, wie Familien mit höheren Einkommen entlastet werden“, sagt die Vorsitzende des Kinderschutzbundes Köln, Marlis Herterich.
Mehr Kitas, keine Gebühren
Das sagt die Regierung
„Wir wollen die bestmögliche Betreuung für unsere Kinder und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dazu unterstützen wir Länder und Kommunen weiterhin beim Ausbau des Angebots, bei der Steigerung der Qualität von
Kinderbetreuungseinrichtungen und dem Angebot an Kindertagespflege sowie zusätzlich bei der Entlastung von Eltern bei den Gebühren bis hin zur Gebührenfreiheit. Dafür werden wir laufende Mittel zur Verfügung stellen.“
Das sagen Experten
Zwar stelle die Regierung eine Gebührenbefreiung der Kitas in Aussicht, Umsetzung und Finanzierung hingegen blieben völlig offen, moniert Butterwegge. Er bezweifelt, dass „klamme Kommunen“ das dafür zur Verfügung gestellte Geld wirklich für die Gebührenbefreiung einsetzen würden.
Laut einer Berechnung der Böll-Stiftung würden die für den Kita-Bereich vorgesehenen 3,5 Milliarden Euro bis 2021 schon jetzt weder für den notwendigen Ausbau der Plätze noch für Qualitätsverbesserungen reichen. Bis 2020 würden 300000 zusätzliche Plätze benötigt, bis dato sind aber nur für 100000 Plätze Bundesgelder vorgesehen.
Zur Umsetzung der Beschlüsse der Jugend- und Familienkonferenz, die Eckpunkte für ein Kita-Qualitätsgesetz formuliert hat, brauche es vom Bund jährlich rund eine Milliarde Euro mehr, beginnend mit einer Milliarde Euro in 2018 bis fünf Milliarden Euro in 2022. Im Koalitionsvertrag jedoch sind für 2019 aber nur 0,5 Milliarden, für 2020 eine Milliarde und für 2021 zwei Milliarden Euro vorgesehen.
Kölns Jugend- und Schuldezernentin Agnes Klein sieht in den zur Verfügung gestellten 3,5 Milliarden Euro dennoch „einen wichtigen Schritt, um das Angebot auszubauen und Qualitätsverbesserungen in Kitas und in der Kindertagespflege zu erreichen.“ Wachsende Städte wie Köln benötigten darüber hinaus aber weitere Bundesmittel, um die Kita-Plätze zu schaffen, die von den Eltern nachgefragt werden. „Zusätzlich brauchen wir eine bessere Ausbildung und attraktivere Bedingungen für Fachkräfte“, so Klein. Damit die Qualität auch wirklich bei den Kindern ankomme, seien Bund und Land in der Pflicht, die Kommunen noch mehr als bisher zu unterstützen.
Mehr Bildung, mehr Teilhabe
Das sagt die Regierung
„Auch die Leistungen für Bildung und Teilhabe werden wir verbessern, Hemmnisse der Inanspruchnahme beseitigen (...). Leistungen sollen künftig pauschal abgerechnet und dass Schulstarterpaket aufgestockt werden. Die Eigenanteile zur Mittagsverpflegung in Kitas und Schulen und für die Schülerbeförderung entfallen.“
Das sagen Experten
Das Kölner KRF fordert bei den Leistungen für Bildung und kulturelle Teilhabe bürokratische Hürden massiv abzubauen und die Kommunikation deutlich zu verbessern. Ergün: „Bisher hat nur ein Viertel der Berechtigten die Leistungen überhaupt bezogen.“ Weil viele Betroffene entweder gar nichts von den Leistungen wüssten, oder mit den vielen einzelnen Anträgen zum Beispiel für Klassenfahrten oder Zoobesuche überfordert seien. Eine große Allianz von Kinderschutzorganisationen drängt auf die Einführung einer Kindergrundsicherung (siehe Kasten) und lehnt das Bildungs- und Teilhabepaket als bürokratisch und stigmatisierend ab. Da es für viele Kinder und ihre Familien mit großem Aufwand und dem Gefühl von Demütigung verbunden sei, schrecke es viele anspruchsberechtigte Familien ab, weshalb sie nicht in den Genuss der Unterstützung kämen.
Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung
Das sagt die Regierung
„Wir werden einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter bis zum Jahr 2025 schaffen.“
Das sagen Experten
Die meisten Fachleute begrüßen dieses Vorhaben – für das zwei Milliarden Euro vorgesehen sind. Offen bleibt allerdings, wie der Rechtsanspruch ausgestaltet werden soll und ob dafür ausreichend Fachkräfte ausgebildet werden. Das Deutsche Kinderhilfswerk fordert eine angemessene Bezahlung für Erzieher und sozialpädagogische Fachkräfte. „Ein Rechtsanspruch ist insofern der richtige Ansatz, als dass Lobbyisten die Umsetzung nun von der Politik einfordern können“, sagt Herterich. Zwar bewertet Ergün den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung als „essenziell“, da sonst viele Kinder auf sich alleine gestellt bleiben. „Bisher erscheint uns die Umsetzung aber eher unrealistisch.“ Der Fokus sollte stattdessen auf den Abbau des Lehrermangels gerichtet werden. Butterwegge betont, dass die Ganztagsbetreuung vor allem eine Frage der Qualität sei und die Einrichtungen mehr bieten und sein müssten als bloße „Verwahranstalten“.
Fazit: Ein zarter Anfang, wenig Mut
Zwar sieht der Deutsche Kinderschutzbund substanzielle Verbesserungen, da sich zum ersten Mal der Wille der Politik zeige, sich am Mindestbedarf des Kindes zu orientieren. „Doch die erkennbaren Schritte in die richtige Richtung sind für uns Vertreter einer Kindergrundsicherung nicht mehr als ein zarter Anfang“, sagt die Kölner Kinderschützerin Marlis Herterich. Vertreter der SOS-Kinderdörfer kritisieren, dass der Koalitionsvertrag kein mutiges und finanziell gut ausgestattetes Gesamtkonzept enthalte, um Kinderarmut in Deutschland nachhaltig zu bekämpfen – und den Armutskreislauf zu durchbrechen.
„Löblich“ findet Armutsforscher Butterwegge, dass die neue Regierung zumindest anerkenne, dass es Kinderarmut gibt. Jedoch könnten die zum Teil sinnvollen Einzelmaßnahmen kein Gesamtkonzept ersetzen. „Das Maßnahmenpaket ist eher ein Päckchen, jedenfalls kein großer Wurf“, sagt Butterwegge und wird noch deutlicher: „Diese Mogelpackung taugt wenig für eine effektive Bekämpfung der Kinderarmut.“ Statt den Solidaritätszuschlag abzuschaffen, sollte ihn die neue Regierung umwidmen und die Gelder für den Ausbau der Sozial- und Bildungsinfrastruktur verwenden. „Mit 18 Milliarden Euro könnte man Kinderarmut wirksam begegnen.“
Alternative: Die Kindergrundsicherung
Im Jahr 2009 gründeten elf Verbände (darunter der Kinderschutzbund und das Kinderhilfswerk) gemeinsam mit 13 Wissenschaftlern das „Bündnis Kindergrundsicherung“ – und fordern seitdem eine Reform der Kinder- und Familienförderung.
Herzstück ist eine Kindergrundsicherung als einheitliche, existenzsichernde Geldleistung, die alle Kinder gleichermaßen und unbürokratisch erreicht, unabhängig von der Familienform und dem Einkommen der Eltern.
Das Existenzminimum von 6919 Euro monatlich soll allen Kindern garantiert werden. Die Geldleistung sinkt mit steigendem Familieneinkommen und orientiert sich daran, was Kinder tatsächlich für ein gutes und gesundes Aufwachsen benötigen.
Um die Kindergrundsicherung sozial gerecht auszugestalten, soll sie mit dem Grenzsteuersatz des elterlichen Einkommens versteuert werden. Im Ergebnis würden Kinder und ihre Familien den Mindestbetrag von knapp 300 Euro erhalten, der ungefähr der maximalen Entlastung durch die jetzigen Kinderfreibeträge entspricht.
Je niedriger das Familieneinkommen ist, desto höher soll die Kindergrundsicherung ausfallen. Familien ohne oder nur mit geringem Einkommen erhalten die gesamte Leistung in Höhe von 619 Euro.
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