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Angst und Frust im UnterrichtDer Internationale Bund West hilft bei Schulmüdigkeit

Lesezeit 6 Minuten

Schulfrust und -müdigkeit kann irgendwann zu Schulverweigerung werden.

Köln – Wenn es nicht so läuft, wie Amin will, kann er ziemlich wütend werden. Das ist nicht verwunderlich, wenn man sich die beengte Wohnsituation des 14-jährigen Schülers vorstellt. Amin (Name von der Redaktion geändert) lebt mit seiner siebenköpfigen Familie in einer Unterkunft für Geflüchtete in Köln. „Die Wohnsituation belastet ihn, er wirkt oft niedergeschlagen“, sagt Nathalie Dräger, Amins Sozialarbeiterin beim Internationalen Bund West (IB West). Auch ihr Name ist in diesem Bericht verfremdet, damit der Jungen nicht identifiziert werden kann. Die Wohnsituation wirke sich auch auf seine Leistungen in der Schule aus. „Wenn er an seine Grenzen kommt, wird er schnell demotiviert und schulmüde.“ Und da Deutsch nicht seine Muttersprache ist, habe er Probleme beim Verständnis von Texten.

Amin ist eines von 40 Kindern und Jugendlichen, die Unterstützung im Programm „Rückenwind“ des IB West erhalten. Viele von ihnen haben auf die Schule schon lange keine Lust mehr. Damit das anders wird, erhält Amin Lernförderung in verschiedenen Fächern und nimmt an sozialen Gruppenstunden Teil. Zu Gesprächen mit den Eltern wird ein Dolmetscher oder eine Dolmetscherin hinzugezogen, damit sich die Eltern in ihrer Muttersprache äußern können.

Warnsignale: Schüler kommen oft zu spät oder gar nicht

Bei „Rückenwind“ machen die Schüler auch Ausflüge, bereiten Smoothies zu oder backen gemeinsamen. Die Schüler und Schülerinnen arbeiten mit den Fachkräften daran, das eigene Selbstvertrauen zu stärken. In der Beratung werden gemeinsame Ziele definiert, in den Förderstunden werden Lernrückstände abgebaut – und es ist immer Zeit für Gespräche über das, was sie bewegt.

Mit gemeinsamen Spielen wird das Selbstbewusstsein der Kinder gestärkt.

Die Ursachen der Schulmüdigkeit sind vielfältig: Mitunter haben Jugendliche wie Amin Probleme, sich in großen Klassenverbänden zurechtzufinden. Andere werden Opfer von Beleidigungen oder Mobbing. Zudem können Probleme innerhalb der Familie Schulmüdigkeit begünstigen. „Jedes Kind kann betroffen sein“, sagt Dräger. Die Wahrscheinlichkeit steige, wenn es Belastungen in der Familie gibt. Als Warnsignale gelten, wenn Schüler oft zu spät oder gar nicht zur Schule kommen, den Unterricht stören, die schulischen Leistungen nachlassen oder die Mitarbeit verweigert wird. Oft sind Kinder in der Klasse auch sozial isoliert. Auch dadurch kann Schulfrust entstehen, der zur Schulverweigerung führen kann. Die Noten werden noch schlechter, die Angst vor der Schule wächst weiter. Ein Teufelskreis.

IB West vermittelt Strategien, besser zu lernen

Der IB West will mit dem von „wir helfen“ geförderten Programm „Rückenwind“ die Abwärtsspirale durchbrechen. Das Projekt schließt an das Vorgänger-Programm „Die zweite Chance“ an, das von 2006 bis 2014 vom Europäischen Sozialfonds gefördert wurde. Bei „Rückenwind“ agieren die pädagogischen Fachkräfte als Lotsen. Da viele Eltern mit dem Schulstoff überfordert sind und Lehrende sich um zwei Dutzend Kinder gleichzeitig kümmern, haben die Sozialarbeiter mit einer konzentrierten Unterstützung oft mehr Erfolg.

Die Schüler und Schülerinnen aus den Klassen 5 bis 7, manchmal auch aus der achten Klasse, arbeiten derzeit in vier Schulen im rechtsrheinischen Köln mit dem IB West zusammen. Der Andrang ist größer. „Wir könnten doppelt so viele Schüler aufnehmen“, so Dräger. Im Programm lernen die Mädchen und Jungen, mit welchen Strategien sie besser lernen. Wichtig für die Schüler ist auch Hilfe dabei, wie man seinen Schulrucksack packt und seine Materialien richtig organisiert. Manchmal muss ein Schüler auch intensiver begleitet werden, um morgens überhaupt an der Schule zu erscheinen. „Es geht oft um Dinge, die wir für selbstverständlich halten.“

Offen über Frust sprechen

In den Gesprächen mit Amins Familie kam schnell heraus, dass sich die Eltern überfordert fühlen, dem Jungen eine feste Tagesstruktur zu geben, negative Stimmungen aufzufangen und eine gesunde Ernährung zu bieten. Daher wurde über das Jugendamt eine Familienhilfe angefordert, die mit der Familie und Amin arbeitet. Durch die Fachkraft von „Rückenwind“ und die Familienhilfe besteht nun ein guter Kontakt zwischen Familie und Schule.

So können Sie helfen

wir helfen: damit in der Krise kein Kind vergessen wird

Mit unserer Aktion „wir helfen: damit in der Krise kein Kind vergessen wird“ bitten wir um Spenden für Projekte, die Kinder und Jugendliche wieder in eine Gemeinschaft aufnehmen, in der ihre Sorgen ernst genommen werden.

Bislang sind 1.328.993,90 Euro (Stand: 27.09.2022) eingegangen.Die Spendenkonten lauten:„wir helfen – Der Unterstützungsverein von M. DuMont Schauberg e. V.“Kreissparkasse Köln, IBAN: DE03 3705 0299 0000 1621 55Sparkasse Köln-Bonn, IBAN: DE21 3705 0198 0022 2522 25

Mehr Informationen und Möglichkeiten zum Spenden unter www.wirhelfen-koeln.de.

„Der Junge machte durch die Lernförderung schnell gute Fortschritte in den Schulfächern“, sagt die Betreuerin. Er versteht die Aufgaben besser und beteiligt sich mehr am Unterricht. Natürlich hat er weiterhin auch frustrierende Momente, aber Amin spricht nun offen darüber. Die überschüssige Energie soll er nun nicht wie früher nur über Handyspiele abbauen, sondern mit Sport. Amin hat bereits Schnupperstunden bei einem Tischtennisverein absolviert.

Die Corona-Pandemie drohte, die Fortschritte wieder zunichte zu machen. Nun musste Amin die Hausaufgaben wieder alleine erledigen. Und da die Familie nur einen Laptop hat, musste sich Amin das Gerät mit seinen Geschwistern teilen. So nahm er am Unterricht oft nur über den Smartphone-Bildschirm teil. Es gab technische Probleme, weil die Internetverbindung im Wohnheim nicht gut ist. Der Junge hatte keinen Raum, um sich zurückzuziehen, vermisste seine Mitschüler, kam schnell an seine Leistungsgrenzen und stand morgens immer später auf. Einen Platz in der Notbetreuung gab es nicht – alle Plätze waren ausgebucht von Kindern, die offenbar noch mehr Unterstützung benötigten.

Pandemie hinterlässt Spuren

Im Lockdown hielt der IB West telefonisch Kontakt mit dem Jungen. Das „Rückenwind“-Team erfuhr, wie es der Familie geht, und konnte immerhin per Telefon eine Lernförderung durchführen. Es gelang der Sozialarbeiterin außerdem, ein Tablet in der Schule auszuleihen, so dass Amin den Unterricht auf einem größeren Bildschirm verfolgen konnte. Auch die Gruppenstunden bei „Rückenwind“ fanden per Video statt, damit Amin den Kontakt zu anderen Kindern halten konnte. „Rückenwind“ half ihm, morgens rechtzeitig aufzustehen, die Fachkraft besuchte ihn auch mal im Wohnheim, schickte ihm Päckchen mit Rätseln und Mandalas und auch zum Geburtstag ein Geschenk.

Dennoch hinterließ die Pandemie ihre Spuren. Der persönliche Kontakt zu Schülern, Lehrenden und „Rückenwind“ fehlte, trotz aller Hilfen rutschten die Noten wieder ab, Amin drohte sitzenzubleiben. „Rückenwind“ konnte der Klassenlehrerin spiegeln, dass der Junge sich im Projekt engagierte. Er wurde doch noch versetzt.

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Heute besucht Amin die achte Klasse, seine Leistungen haben sich wieder stabilisiert. „Er ist weniger in sich gekehrt und aufgewühlt, nimmt aktiv am Unterricht teil und bekommt Lob von seinen Lehrern“, sagt die Sozialarbeiterin. In Biologie hat er jüngst die beste Klassenarbeit geschrieben, sein Englischlehrer lobt seinen Einsatz im Unterricht und vor kurzem hat er begonnen, Schach zu lernen. „Rückenwind“ unterstützte ihn nun wieder in der Schule. Bis zum Schuljahresende darf er noch im Programm bleiben – und hat hoffentlich nach zwei Jahren seine Schulmüdigkeit überwunden.