Kölner Spielecircus e.V.Inklusion auf dem Drahtseil und am Trapez
Mit waagerecht ausgestreckten Armen und eisern nach vorn gerichtetem Blick rollt Tobi auf einer großen, blauen Tonne durch die Zirkushalle. Vorbei an Lina, die in exakt gleicher Pose auf einem Drahtseil konzentriert einen Fuß vor den anderen setzt. Neben ihr am Boden liegt Ariana, die ihre Extremitäten in die Höhe streckt, kichernd, aber dennoch konzentriert, um Marietta und Hanna auf ihren Füßen und Beinen zu balancieren. Hinter ihnen hängt Gunilla kopfüber im knallroten Vertikalseil.
Die Atmosphäre knistert in der großen Übungshalle des Kölner Spielecircus in Vogelsang. Lebensfreude, Spaß und Selbstbewusstsein liegen in der Luft, wenn Tobi, Lina, Ariana und neun weitere „Sternschnuppen“-Akrobatinnen und Akrobaten wie jeden Dienstagnachmittag für eineinhalb Stunden am „exklusiv inklusiven“ Zirkustraining teilnehmen, wie Trainerin Nora Krey das etwas andere „Spielecircus“-Projekt nennt. Denn es richtet sich, im Unterschied zu den vielen anderen inklusiven Angeboten der kulturpädagogischen Facheinrichtung, ausschließlich an Kinder und Jugendliche zwischen zehn und 18 Jahren, die mit einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung leben.
Zirkus bietet Schutz
„Wir nennen ihn auch Inselkurs, da wir hier bewusst auf eine Vermischung von Kindern mit und ohne Beeinträchtigung verzichten. Inklusion bedeutet nämlich auch, Schutzräume zu schaffen, in denen sich jedes Kind so geborgen und wohlfühlt, dass es seine Potenziale optimal entfalten kann – ohne sich an anderen messen zu müssen“, sagt die Sozialarbeiterin vom „Spielecircus“-Team.
„So können wir die speziellen Anforderungen der Kinder und Jugendlichen berücksichtigen und ihren Weg in einen unserer normalen inklusiven Kurse unterstützen“, ergänzt „Spielecircus“-Leiter Heiner Kötter – und erklärt auch gleich, warum das „Zirkusmachen“ ein hohes inklusives Potenzial hat und sich damit optimal eignet für die ganzheitliche, künstlerische Förderung von geistig und körperlich beeinträchtigen Kindern und Jugendlichen.
Zirkus verbindet
„Die angewandten Techniken bieten einen spielerischen Zugang für jede und jeden, ob sportlich fit oder mit eingeschränkten motorischen Fähigkeiten, der Sprache mächtig oder nicht, groß oder klein, in Deutschland geboren oder anderswo. Im Zirkus gibt es eine universale Sprache, dort findet jeder junge Mensch seinen Platz, seine Aufgabe und Rolle entsprechend seinen Fähigkeiten. Zirkusarbeit eröffnet neue, individuelle Möglichkeiten, stärkt das Selbstbewusstsein und die Selbstwirksamkeit und bringt junge Menschen zusammen“ – Zirkus verbindet.
Akrobatik- und Jonglage-Techniken setzen beispielsweise Kooperation, Vertrauen, Ausdauer und Disziplin voraus. Clownerie und Improvisation bieten die Chance, sich in verschiedenen Rollen auszuprobieren. Und Feuer- und Fakirübungen ermöglichen den Umgang mit den eigenen Grenzen und Ängsten.
Dass sie damit auch das Selbstvertrauen fördern, beweisen die zwölf „Sternschnuppen“, die sich zwischenzeitlich im Kreis versammelt haben, um eine brennende Feuer-Fackel behutsam – und sichtlich stolz – einander weiterzureichen. „Früher habe ich mich vor Feuer gefürchtet, jetzt habe ich zwar Respekt davor, aber keine Angst mehr“, sagt Gunilla, und pustet mit einem tiefen Atemzug die Feuerfackel aus – Zirkus macht mutig.
Zirkus kann zaubern
Das, was in der Trainingshalle des „Spielecircus“ vonstatten ging und geht, hat laut Heiner Kötter, selbst schon therapeutisches Fachpersonal ins Staunen versetzt. Kötter erzählt von einem Mädchen, das eine Kölner Förderschule besucht und schon länger kein Wort gesprochen hat, während des Zirkustrainings aber plötzlich ein Mikrofon in die Hand nahm – um das Geschehen zu moderieren.
Oder von dem Jungen, der nach kurzem Training auf einer Luftbahn auf und ab sprang, obwohl er aufgrund einer Schädigung des zentralen Nervensystems spastisch gelähmt ist – Zirkus kann zaubern.
„Es passiert nicht selten, dass unsere jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer Requisiten aus der Not heraus oder einfach nur zum Spaß zweckentfremden – und damit neue Techniken erfinden“, sagt Nora Krey. Da wird aus einem Jonglierteller, der üblicherweise auf einem Stab gedreht wird, eine neue Balanceübung für den Kopf, weil der Trick mit dem Stab partout nicht gelingen wollte. Anderen Kindern gefiel es besser, die Teller nach Farben zu sortieren – und zu prüfen, wie viele sie auf ihrem Kopf stapeln können.
„Wir unterstützen unsere Besucherinnen und Besucher dabei, ihre individuellen Potenziale zu entdecken und zu entfalten. Daneben ist es uns ein großes Anliegen, Kindern und Jugendlichen, die bislang wenig gefördert wurden, mit unseren Angeboten eine Möglichkeit zu bieten, sich selbst zu präsentieren, Applaus und Anerkennung zu erhalten“, sagt Nora Krey.
Zirkus macht selbstbewusst
Deshalb steht in regelmäßigen Abständen eine große, gemeinsame Aufführung im bunten Zirkuszelt auf dem Programm des Kölner Spielecircus. Zuletzt haben dort die Teilnehmenden der inklusiven Zirkusgruppe „Mobilé“, dem jüngsten Projekt des „Spielecircus“-Teams, ihr Können vor einem großen Publikum präsentiert.
„Mobilé“, ein Kooperationsprojekt mit Kölner inklusiven Einrichtungen, ist vergangenen Oktober an den Start gegangen und wird unter anderem von „wir helfen“ und der Kämpgen-Stiftung gefördert. Das Projekt steht unter dem Motto „Wir bewegen uns gemeinsam“, was doppeldeutig gemeint ist und auf das Anliegen des „Spielecircus“-Teams verweist, Verbindungen zu schaffen und den Gemeinschaftssinn zu fördern. „Neben den individuellen Fortschritten erfahren wir tatsächlich immer wieder, wie sehr unsere Projekte das Miteinander fördern. Schließlich ist, wer mitmachen kann, nicht allein. Jedes Ich braucht ein Du als Gegenüber“, sagt Kötter.
In Bewegung ist das heute 17-köpfige „Spielecircus“-Team bereits seit 41 Jahren, hat in dieser Zeit knapp 18.000 Veranstaltungen auf die Beine gestellt und damit rund 753.000 Kölner Kinder gestärkt und glücklich gemacht. Und der „Spielecircus“ entwickelt immer wieder neue Veranstaltungsmodule aus den Bereichen Spiel, Zirkus, Theater und Erlebnis.
Rund 120 Jungen und Mädchen zwischen vier und 18 Jahren besuchen pro Woche die insgesamt 13 Kurse in der Vogelsanger Zirkusschule. Daneben gibt es pro Jahr zehn Wochen lang Ferienaktionen, es werden „aufsuchende“ Projekte angeboten in Kindergärten, Flüchtlingsunterkünften, Grund-, Förder- und weiterführenden Schulen, Vereinen, im Offenen Ganztag und in Kinder- und Jugendzentren. Außerdem gibt es Fortbildungsangebote für pädagogisches Fachpersonal und Lehrkräfte.
Zirkus bringt Kinder zum Leuchten
Um 17.30 Uhr öffnet sich die Glastür der Zirkushalle, die ersten Eltern strecken ihre Köpfe herein, um zu signalisieren: Es ist an der Zeit, nach Hause zu fahren. Doch Tobi, Lina, Ariana und die anderen neun „Sternschnuppen“-Akrobatinnen und -Akrobaten haben offenbar selbst nach eineinhalb Stunden intensivem Training nicht genug Zirkusluft geschnuppert. Noch ist nicht die Zeit, zu verglühen, sie möchten weiter leuchten – auf der Tonne, auf dem Drahtseil, am Trapez. Und demnächst auch in der Manege.