Bei der Streetwork-Station der „Off Road Kids Köln“ erhalten junge Menschen von der Straße professionelle Beratung und eine Perspektive.
StraßenkinderHilfe für die unsichtbare Jugend von Köln
Noch vor zehn Jahren waren sie präsent im Kölner Stadtbild. Da traf man sie an einschlägigen Szenetreffpunkten der Stadt, auf der Domplatte, am Neumarkt oder dem Wiener Platz. Heute, in digitalen Zeiten, bleiben sie meist unter dem Radar der Behörden, sind unsichtbar für die Gesellschaft und auch für Streetworker wie Sven Aulmann von der „Off Road Kids“- Stiftung in Köln.
Die Rede ist von jungen wohnungs- oder obdachlosen Menschen, die salopp „Ausreißer“ oder „Straßenkinder“ genannt werden und in Fachkreisen gerne „entkoppelte Jugendliche“ — weil sie kaum oder keinen familiären Halt mehr haben, abgeschnitten sind vom deutschen Hilfesystem, von Behörden und der Schule, kurz: von jeglicher gesellschaftlicher Teilhabe.
Unterschlupf via Social Media finden
Die Situation dieser jungen Menschen hat sich mit der Weiterentwicklung von Smartphones, mobilem Internet und Social Media enorm verändert. „Sie haben dadurch eine neue Möglichkeit gefunden, Unterschlupf zu finden, nehmen etwa über Facebook mit Freunden, Bekannten oder wohnungslosen Gleichaltrigen Kontakt auf, um vorübergehend irgendwo auf einem Sofa unterzukommen, was zum Phänomen der verdeckten Wohnungslosigkeit führt“, sagt der Leiter der Kölner „Off Road Kids“-Streetwork-Station Sven Aulmann.
Auch dadurch hat die Sichtbarkeit betroffener junger Menschen zwar abgenommen, nicht aber deren Zahl: Laut Wohnungslosenbericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales aus dem Jahr 2022 gibt es hierzulande rund 38.000 Minderjährige und junge Erwachsene bis 27 Jahre, die pro Jahr akut von Obdachlosigkeit bedroht sind oder deren Lebensmittelpunkt bereits die Straße ist. Rund 11.000 von ihnen leben in Notunterkünften, etwa 21.000 in verdeckter und 6.000 in völliger Obdachlosigkeit.
„Off Road Kids Köln“: Lebensperspektiven für Straßenkinder
Diese jungen Menschen zu erreichen, dort abzuholen, wo sie sich hauptsächlich aufhalten, nämlich im World Wide Web, und gemeinsam mit ihnen eine für sie bestmögliche und nachhaltige Lebensperspektive zu entwickeln, ist Ziel der „Off Road Kids Stiftung“. Die Hilfsorganisation ist als einzige bundesweit für Straßenkinder tätig.
Mit ihrer überregionalen, digitalen Beratung „sofahopper.de“ und den fünf „analogen“ Streetwork-Stationen in Berlin, Dortmund, Frankfurt, Hamburg und Köln hat „Off Road Kids“ seit seiner Gründung vor genau 30 Jahren insgesamt 11.510 junge Menschen vor der Obdachlosigkeit bewahrt, allein im vergangenen Jahr 7.378 Betroffene beraten und 1.576 von ihnen in einer eigenen Wohnung oder einer betreuten Wohnform untergebracht.
5.240 Beratungsgespräche im vergangenen Jahr allein in Köln
Unweit des Hauptbahnhofs, in einem ehrwürdigen Altbau am Kattenbug 18-24, ist die Kölner Streetwork- und Beratungsstation beheimatet. Dort bieten Sven Aulmann und sein vierköpfiges Team vor Ort wohnungslosen oder von Obdachlosigkeit bedrohten jungen Menschen Beratungsgespräche an – im vergangenen Jahr waren es 5.240 an der Zahl. 80 Prozent der jungen Menschen haben online über „sofahopper.de“ Kontakt aufgenommen.
Sie stammen aus allen Gesellschaftsschichten, häufig sind es komplizierte Jugendhilfefälle, denn viele entkoppelte junge Menschen haben vor ihrem Absturz auf die Straße oder in die verdeckte Wohnungslosigkeit einen zehrenden Leidensweg hinter sich. Nicht selten stammen sie aus zerrütteten Familien, waren mitunter Gewalt ausgesetzt oder der Schritt in ein selbstständiges Leben kam für sie viel zu früh.
„Dass mit etwa 70 Prozent ein Großteil unseres Klientels zwischen 18 und 25 Jahre alt ist – nur 18 Prozent sind minderjährig – zeigt, dass vor allem junge Menschen aus betreuten Kinder-, Jugendwohngruppen oder Pflegefamilien mit der immer frühzeitiger stattfindenden Verselbstständigung und einem komplizierten Demokratiewust überfordert sind“, sagt Aulmann. Deshalb füllt das „Off Road Kids“-Team gemeinsam mit den jungen Hilfesuchenden Formulare aus, klärt die Zuständigkeiten der Ämter ab, begleitet sie zu Terminen bei Behörden oder den Eltern, hilft ihnen dabei, eine Wohnung zu finden, und prüft, welche zusätzliche Hilfe, etwa eine ärztliche Versorgung, Therapie, Schulden-, Rechts- oder Drogenberatung, nötig ist.
Was betroffene junge Menschen am Kattenbug erhalten, ist damit vor allem jegliche Form von Information und Beratung, die ihnen dabei hilft, Autonomie und im besten Fall eine Erfolgsgeschichte zu entwickeln. „Was wir ihnen nicht anbieten können und wollen, sind kostenlose Duschmöglichkeiten, Waschmaschinen, Essensausgaben oder andere Versorgungsstrukturen, die ihnen das Leben auf der Straße komfortabler gestalten und damit die Motivation, eine neue Lebensperspektive zu entwickeln, nehmen würden“, sagt Aulmann.
Ein Schulabschluss für 30 junge Menschen von der Straße
Derzeit haben 200 junge Besucherinnen und Besucher zudem die Möglichkeit, ihre (Amts-)Post an die Streetwork-Station am Kattenbug senden zu lassen – und aktuell 26 Jugendliche und junge Erwachsene haben dort die Chance, ihren Haupt- oder Realschulabschluss nachzuholen. Die offiziell 30 Teilnahmeplätze sind Teil des „Off Road Kids“-Bildungsprogramms „Prejob“, das sozialpädagogische Begleitung mit einem individuellen, flexiblen Beschulungssystem kombiniert. Das Besondere daran: Die jungen Menschen können jederzeit im Jahr mit der Beschulung beginnen.
Am Kölner Standort begleiten vier Lehramtsstudierende in Kooperation mit einer Fernschule die jungen Menschen im Lernalltag – entsprechend ihres individuellen Bildungsstands und Lernvermögens. Parallel unterstützt sie ein Sozialarbeiter-Team bei der Bewältigung ihres Alltags, dass damit verbundene Herausforderungen sie nicht vom Lernen abhalten.
Zwei Tüten voller unerledigter Behördenkorrespondenz
„In unserem Job geht es viel um Beziehungsarbeit. Wer so jung in einer solch schwierigen Situation landet, hat meist kein Selbstvertrauen und noch niemals zuvor Bestätigung erhalten“, sagt Aulmann. Zugang und Bindung zu ihrem Klientel ermöglichen den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern neben den persönlichen Gesprächen auch die Postfächer. Aulmann erzählt von einem jungen Mann, der zunächst nur auf der Suche nach einer festen Postadresse war. „Als wir ihm dann anboten, gemeinsam mit ihm die Post zu öffnen, und bei Problemen zu helfen, kam er kurze Zeit später mit zwei Tüten voller unerledigter Behörden-Korrespondenz. Wir haben gemeinsam eine To-do-Liste erarbeitet, abgehakt und nach einer bestmöglichen Perspektive gesucht“, sagt Aulmann.
Meist genüge schon ein wenig Unterstützung und die Erfahrung: da hilft mir jemand, da glaubt wer an mich, um betroffene junge Menschen dazu zu motivieren, ihr Leben selbst zu sortieren. Wer den Weg an den Kattenbug nicht persönlich wagt oder findet, den erreicht das Kölner „Off Road Kids“-Team über die virtuelle Streetwork-Station „sofahopper.de“ — und zwar 713 der insgesamt 930 Kölner „Neuzugänge“ allein im Jahr 2023.
„Wir brauchen mehr Wohnungsangebote für Köln“
Die Suche nach der bestmöglichen Perspektive für jeden einzelnen jungen Menschen von der Straße gelingt „Off Road Kids“ bundesweit nach eigenen Angaben in weniger als 75 Beratungsstunden. „Der umkämpfte Wohnungsmarkt verschärft die Situation obdachloser junger Menschen massiv. Es ist enorm schwierig, Vermieter zu finden, die junge Leute einziehen lassen. Wir brauchen mehr Wohnungsangebote in Köln“, mahnt Markus Seidel, der Gründer und Chef der vor allem durch Spenden finanzierten „Off Road Kids Stiftung“. Auch „wir helfen“ und die Kölner Bethe-Stiftung unterstützen die Kölner Streetwork-Station. So konnten dank der „wir helfen“-Spende im vergangenen Jahr 80 junge Wohnungs- und Obdachlose beraten werden.
Sven Aulmann verweist auf die volkswirtschaftliche Bedeutung der Arbeit: „Für jeden jungen Menschen, mit dem wir gemeinsam eine Perspektive für ein selbstbestimmtes Leben mit eigenem Einkommen und Wohnraum entwickeln, verhindern wir lebenslange Sozialhilfefälle. Jedes Mal spart der Staat damit 900.000 Euro.“