Die Zahl der Kinder mit Teilleistungsstörungen nimmt seit der Pandemie zu. Geholfen wird ihnen im Kölner Therapiezentrum.
Kölner TherapiezentrumEin Rettungsanker für Kinder mit Förderbedarf
Der 8-jährige Vanja (alle Namen der Kinder geändert) kam mit Vater und Mutter aus Bulgarien nach Deutschland. Die Eltern sind Analphabeten, die Familie spricht kein Deutsch, die Briefe des Jugendamtes mit der Aufforderung, das Kind in der Schule anzumelden, bleiben ungeöffnet. Nach sechs Monaten wird eine Schulsozialarbeiterin auf die Familie aufmerksam und handelt. Das Kind kommt in die Schule, hat aber sprachliche Probleme und Schwierigkeiten, sich in die Klassengemeinschaft einzufinden.
Baschar stammt aus Syrien. Er hat zwei jüngere Geschwister, der Vater war Soldat, ist traumatisiert und trinkt. In der Familie herrscht Gewalt, so dass die Mutter zeitweise mit den Kindern im Frauenhaus lebt. Baschar kann kein Deutsch, ist schreckhaft und während des Unterrichts oft abwesend.
Störendes Verhalten, gefährdete Schulabschlüsse und keine Freunde
Anton ist 12 Jahre alt. Er wohnt mit den Eltern und seinem Bruder in einem Einfamilienhaus in Longerich. Der Vater ist arbeitsbedingt viel unterwegs, die Mutter quasi alleinerziehend. Der Junge stört mit seinem Verhalten permanent den Unterricht, schon drei Konferenzen wurden wegen seiner Verhaltensprobleme einberufen. Jetzt droht ihm ein Förderschulverfahren. Er hat keine Freunde, sein Schulabschluss ist gefährdet.
Dies sind nur drei von vielen Grundschulkindern, denen dank aufmerksamer Lehrer, Sozialarbeiterinnen und Kinderärzten geholfen werden konnte. Eine Art Rettungsanker für Kinder und Jugendliche mit sogenannten Teilleistungsstörungen ist das Kölner Therapiezentrum (KTZ). Hier werden aktuell 660 verhaltens-, motorisch-, beziehungsweise sprachlich auffällige Kinder zwischen sechs und 13 Jahren getestet und gefördert – mit dem Ziel, ihnen eine Zukunftschance zu geben und ihre Familien zu unterstützen.
Das Kölner Therapiezentrum besteht seit mehr als 40 Jahren und ist mittlerweile an sieben Standorten in Ehrenfeld, Vogelsang, Chorweiler, Mülheim, zweimal in Kalk und Höhenberg vertreten. Zur Arbeit des gut vernetzten Teams gehört der regelmäßige Austausch mit Kinderärzten und-Ärztinnen, Kinder- und Jugendpsychiaterinnen und -psychiatern, Schulsozialarbeiterinnen und -Sozialarbeitern, dem schulpsychologischen Dienst, dem Gesundheitsamt, dem Jugendamt und den Grundschulen.
Der interdisziplinäre Ansatz ermöglicht eine umfangreiche Anamnese, damit betroffene Kinder exakt die Therapie erhalten, die sie benötigen, um am schulischen und sozialen Leben teilhaben zu können. „Wir sind vornehmlich in den sozial stark belasteten Stadtteilen unterwegs und meistens direkt in den Grundschulen präsent. Unsere therapeutische Hilfe ist für die Kinder kostenlos, wenn eine ärztliche Verordnung vorliegt. Welche Förderung das jeweilige Kind dann Kind erfährt – ob Ergotherapie, Logopädie oder Psychomotorik, das entscheiden wir in Absprache mit den Eltern und verschreibenden Ärzten“, sagt Alfred Getz, der Leiter des KTZ.
Kölner Netzwerk für Kinder mit Teilleistungsstörungen
Der Verein ist Anfang der 80er-Jahre in Müngersdorf aus einer Selbsthilfegruppe entstanden. Eltern von betroffenen Kindern haben damals gemeinsam mit der Stadt Köln, dem Sozialamt und den Krankenkassen eine enge Zusammenarbeit beschlossen, um Grundschulkinder mit sozialen, motorischen und sprachlichen Auffälligkeiten zu unterstützen.
„Vor 40 Jahren saßen in einer Grundschulklasse vereinzelt Kinder, die leichte Aufmerksamkeitsstörungen zeigten. Heute sind in jeder Klasse drei bis vier Schülerinnen und Schüler betroffen und ihre Störungen sind wesentlich komplexer. Sie können sich nicht konzentrieren, nicht lange still sitzen, lassen sich blitzschnell ablenken und bekommen einen Wutanfall, wenn sie vor dem Unterricht ihr Handy abgeben müssen“, sagt Getz.
Manche der Kinder seien sozial isoliert, viele nicht in der Lage, mit Gleichaltrigen auszukommen – hätten folglich keine Freunde, würden nicht zu Kindergeburtstagen eingeladen. Für Kinder mit komplexen Störungen gibt es spezielle Gruppenangebote, in denen mittels Bewegung und Spiel versucht wird, die verloren gegangenen motorischen und sozial-emotionalen Kompetenzen zu wecken und zu stabilisieren.
In diesen Psychomotorik-Kursen sollen Persönlichkeitsentwicklung, Verhaltensschulung, Prävention gegen Gewaltverhalten und Anpassungsfähigkeit gefördert werden, damit eine Teilhabe am Klassenunterricht überhaupt möglich ist. „Die Zahl der Kinder mit einer psychomotorischen Störung ist durch Corona explodiert. Vor der Pandemie gab es sieben Anmeldungen pro Woche, heute sind es 14.
Psychomotorische Störungen haben durch Pandemie zugenommen
Viele Familien haben während er Pandemie aus Angst ihre Wohnungen nicht verlassen, die Kinder haben fast zwei Jahre komplett abgeschottet zu Hause gesessen, keine anderen sozialen Kontakte gehabt und übermäßig viel elektronische Medien konsumiert“, so der Heilpädagoge und Systemische Berater Getz.
Das KTZ ist ein anerkannter Träger der Jugendhilfe der Stadt Köln und steht finanziell auf zwei Säulen. Ergotherapie und Logopädie übernehmen die Krankenkassen, heilpädagogische Leistungen bezahlt die Stadt Köln. Eine Psychomotorik-Stunde mit vier bis sechs Kindern kostet mit Vor-, Nachbereitung und Verwaltungsanteil zwischen 80 und 100 Euro. Eine Heilpädagogik-Stunde mit einem Kind zwischen 50 und 70 Euro.
Je nach Haushaltslage schwanken jedoch die städtischen Geldbeträge. So entstehen Engpässe und das Therapiezentrum ist zusätzlich auf Spenden angewiesen. „wir helfen“ etwa hat den Verein beim Aufbau des Standorts in Mühlheim finanziell unterstützt.
Stadt Köln hilft 590 Kindern, der Bedarf ist wesentlich höher
„Die Stadt Köln ermöglicht durch Ihre Zuwendungen in diesem Jahr rund 590 Kindern im Quartal eine heilpädagogische Therapie. Eine Aufstockung ist aufgrund klammer kommunaler Kassen momentan nicht möglich“, bedauert Getz. Denn der Bedarf sei viel höher. Bereits jetzt finanziere der Verein die heilpädagogische Arbeit für 70 Familien aus eigener Kasse über Spenden und Rücklagen.
„Wenn öffentliche Gelder weiter stagnieren oder gekürzt werden und der Bedarf an Hilfe weiterhin steigt – was wir stark annehmen – müssen wir immer mehr Familien wegschicken“, mahnt Getz und bedauert, dass nicht alle Schulkinder von den Leistungen profitieren können.
„Während die Mittel für die Frühfördereinrichtungen für Kinder bis sechs Jahren eine gesetzliche Grundlage haben, sind die Gelder für die Fördereinrichtungen für Kinder ab sechs Jahren eine freiwillige Leistung der Stadt Köln. Leider sind aber viele Kindergartenkinder beim Übergang in die Grundschule noch lange nicht austherapiert“, so Getz.
Finanzielle Engpässe und fehlende Räumlichkeiten
Neben den finanziellen Engpässen fehlen auch Räume für die Therapiestunden. Die meisten Grundschulen platzen aus allen Nähten: „Wir müssen die Kinder dort behandeln, wo sie täglich hingehen, damit nehmen wir den Mädchen und Jungs die Schwellenangst und ersparen den Eltern lange Anfahrtswege. Container auf den Schulhöfen wären eine denkbare Lösung, aber ich mag mir nicht vorstellen, welche Verwaltungshürden da auf uns zukämen“, sagt der Leiter des KTZ.
Vanja, Baschar und Anton sind inzwischen in therapeutischer Behandlung. Die engmaschige Betreuung der verhaltensauffälligen Kinder durch den interdisziplinären Ansatz im Kölner Therapiezentrum zeigt erste Erfolge: Sie öffnen sich und machen allmählich im Schulunterricht aktiv mit. Vanja geht regelmäßig zur Ergotherapie und besucht einen Logopäden sowie eine Psychomotorikgruppe. Baschar wird von einer Heilpädagogin begleitet und Anton ist in die nächste Klasse versetzt worden.