Die Lebenshilfe Köln bietet für nichtsprechende Kinder und junge Erwachsene ein lebhaftes Kommunikationstraining an.
Kommunikation macht stolzZu Besuch bei der Talkergruppe der Lebenshilfe Köln
Wenn sich Emre, Aischa, Lorenz und vier weitere „Grown Ups“ an jedem zweiten Samstag im Monat zum „Verzällche“ in der Geschäftsstelle der Lebenshilfe Köln treffen, darf ihr Talker nicht fehlen. Ohne ihn wären die jungen Erwachsenen zwischen 17 und 27 Jahren nicht in der Lage, eines ihrer wichtigsten Grundbedürfnisse zu befriedigen: Mit ihrer Umwelt, insbesondere ihren Mitmenschen, zu kommunizieren, ihren Wünschen Gehör zu verschaffen und dadurch Miteinander zu erleben.
Denn aufgrund einer Autismus-Spektrumsstörung oder einer geistigen Behinderung können sie die Lautsprache kaum, nur eingeschränkt oder gar nicht nutzen. Sie brauchen Alternativen – wie ihren Talker. Weil dieser Sprachcomputer sie dabei unterstützt, aber alleine noch keine funktionierende Kommunikation garantiert – denn die kommt erst durch Interaktion mit anderen zustande – hat die Lebenshilfe Köln vor zehn Jahren die erste „Talkergruppe“ ins Leben gerufen.
Plausch auf der Parkbank, in der KVB-Bahn oder an der Supermarktkasse
Das Kommunikationstraining ist ein Kooperationsprojekt der Beratungsstelle „Kommunikation und Verhalten“ (BeKoVe) der Lebenshilfe Köln und deren Freizeit-Abteilung „JULE“-Club. Es bietet 21 Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Rahmen von mittlerweile drei „Talkergruppen“ die Chance, ein Mal im Monat in einem zwanglosen Rahmen die Handhabung der Talker zu trainieren, um sie effektiv im Alltag einzusetzen – ob auf der Parkbank, in der KVB-Bahn, beim Quassel mit der Nachbarin oder an der Supermarktkasse.
„Schließlich braucht jeder Mensch Kommunikation, um Gemeinschaft erleben zu können. Viele beeinträchtigte junge Menschen haben aber Probleme mit der Kommunikation, was sehr frustrierend sein kann, die Betroffenen oft ausschließt und auch problematisches Verhalten nach sich ziehen kann“, sagt Holger Mülling. Der Heilerziehungspfleger leitet die „Grown Up“-Talkergruppe und arbeitet als Berater bei der BeKoVe.
Damit betroffene junge Menschen lernen, sich in ihrer eigenen Sprache zu Hause zu fühlen, müssen sie ihren Talker bedienen können aber auch in der Lage dazu sein, anderen zuzuhören, sich in sie hineinzudenken, sie ausreden zu lassen. „Sie sollten immer wieder erfahren, wie schön und erfolgreich es ist, sich mit anderen sprachlich zu verständigen“, sagt Mülling. „Mit den Talkergruppen bieten wir unseren Teilnehmenden dafür das ideale regelmäßige, lockere und geschützte Forum“, ergänzt seine Kollegin Alexis Ampezzan, die als Schulbegleiterin bei der Lebenshilfe Köln arbeitet.
Sprachcomputer kann auch Schimpfworte und spannende Wortgefechte auslösen
Dass auch Scharmützel und Wortgefechte zu einer authentischen Kommunikation gehören, beweist Emre an diesem Samstagnachmittag mit großer Freude. Während sich Holger Mülling mit den anderen Teilnehmenden via Sprachcomputer und sehr lebhaft über deren Sommerferien-Erlebnisse austauscht, drückt Emre immer wieder auf das Symbol mit der Geiß: „Du Ziege“ spricht sein Talker mit leicht bleierner Stimme. Emres Finger zeigt dabei auf Holger Mülling.
„Du willst streiten?“ fragt der, „dann schnell, ich habe zum Zoffen noch fünf Prozent Akkuleistung.“ „Du, Ziege“, tönt es erneut aus Emres Talker. „Das ist ja unglaublich peinlich“, erwidert Müllings sprechender Computer. „Stinkstiefel“ – „Armes Tuckzuck“ – „Weichei“ ... die Worte fliegen durch die Luft bis Müllings Talker der Saft ausgeht. Zum Glück, denn das, was auf Emres Talker-Symbolen in signalrot hinterlegt ist, hätte das Zeug zur handfesten verbalen Auseinandersetzung. „Bullshit“, „Verreck doch“, „Ar...“ sind nur drei von vielen Beispielen im Schimpfworte-Repertoire von Emres Sprachcomputer. Auch „Ich habe keinen Bock mehr“ oder „Ich hasse das“ hat Holger Mülling darin einprogrammiert. „Das Vokabular entspricht einer Emres Alter gemäßen Sprache, mit der sich andere Gleichaltrige ganz selbstverständlich verständigen“, sagt Mülling – und kehrt zurück zum Tagesprogramm.
Einkaufslisten schreiben und Kaffeeklatsch vorbereiten
Nach der Begrüßung und einem Plausch über das in den vergangenen Wochen Erlebte, steht, nachdem sich die Gruppe – via Talker, versteht sich – auf eine Einkaufsliste geeinigt hat, Einkaufen und Kaffeetischdecken auf der Agenda. Während sich Lorenz die Schürze anzieht – er ist heute der Chef-Barrista – machen sich Aischa, Ellen, Emre und Jonas bereit für die Einkaufstour mit den Mitarbeiterinnen Alina Rischel und Tabea Dappen.
Die drei Talker-Gruppen der Lebenshilfe Köln werden von zwei pädagogischen Mitarbeitenden angeleitet, die im Bereich „Unterstützte Kommunikation“ über großes Know-how und langjährige Erfahrung verfügen. Immer dabei sind auch mindestens drei weitere Mitarbeitende, um eine 2:1-Betreuung zu garantieren. „Da viele Teilnehmende, teilweise aufgrund schlechter Erfahrungen Hemmungen oder Probleme haben, ihre Talker einzusetzen, ist es besonders wichtig, dass die Talker-Gruppen von erfahrenen Fachleuten geleitet werden“, sagt Annika Nobbe. Die Heilpädagogin ist Koordinatorin beim „JULE“-Club, der jungen, beeinträchtigten Menschen zwischen sechs und 27 Jahren neben den Talkergruppen eine breite Palette an Freizeit- und Ferienaktivitäten bietet.
Als Mitarbeiter der Beratungsstelle „Kommunikation und Verhalten“ klärt Nobbes Kollege Holger Mülling nichtsprechende Kinder, Jugendliche und deren Familien über Möglichkeiten der sogenannten „Unterstützten Kommunikation“ auf. Und sucht gemeinsam mit ihnen nach dem geeigneten Hilfsmittel – entsprechend der motorischen oder visuellen Fähigkeiten, Schreib- und Lesefähigkeiten des jeweiligen Kindes. Die Bandbreite an Kommunikationshilfen reicht von Ordnern mit Symbolen, über sprechende Tasten bis hin zu Talkern in Form von Tablets.
Auf dem einen Talker sind Symbole zu sehen, die sich, sehr reduziert, auf den Alltag beziehen und etwa anzeigen, welche Fragen man zum Beispiel im Elternhaus, in der Schule, im Straßenverkehr oder beim Einkauf hat. Andere sind wesentlich ausgeklügelter, bieten Fragen zu (aktuellen) politischen Sachverhalten. Oder eben Schimpfwörter.
Chef-Barrista und Quizkönig
„Man weiß nie, wozu man fähig ist, bis man aufsteht, und beschließt, es zu versuchen“, lautet ein Sprichwort. Übertragen auf das Angebot der Lebenshilfe Köln würde es heißen: „Man weiß nie, wozu man fähig ist, bis Holger Mülling beschließt, es mit einem zu versuchen“. Bestes Beispiel ist Lorenz, der Barrista, dem öffentliche Stellen attestiert hatten, niemals in der Lage zu sein, einen Talker zu benutzen. An diesem Samstag ist er – wie auch sonst im Alltag – derjenige, der seinen Sprachcomputer höchst engagiert und autark benutzt, vor allem beim abschließenden Talker-Quiz à la „Wer wird Millionär“. Mit Erfolg. Kommunikation macht stolz.