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Mental Health„Ich hatte Angst, mit den Bakterien Menschen umzubringen“

Lesezeit 4 Minuten
Eine junge Frau steht auf einer Straße und hält die Hände vors Gesicht, die Passanten um sie herum sind verschwommen, sie hat offenbar eine Panikattacke.

Immer mehr Jugendliche leiden unter Angst-, Zwangsstörungen und Panikattacken.

In dieser Folge der „Mental-Health-Serie“ geht es um eine 17-jährige Kölnerin, die wegen mentaler Probleme die Schule abbrechen musste.

Sirena (Name geändert) ist 17 Jahre alt. Sie ist Einzelkind, kommt aus einem akademischen Elternhaus, liebt Hip-Hop Konzerte und ist seit drei Jahren verliebt. Auf den ersten Blick eine normale Teenagerin... Doch Sirena war, nach ihrer Aussage, in ihrem Leben noch nie so richtig glücklich.

Seit ihrer Kindheit leidet sie unter Zwangsstörungen und Angstzuständen. „Mit sieben Jahren fingen die ersten zwanghaften Handlungen an. Ich dachte ständig darüber nach, ob ich etwas falsch gemacht hatte, und war überzeugt, meinen Eltern jeden kleinen Fehler beichten zu müssen.“ Die beruhigten sie dann, machten sich zunächst noch keine Sorgen.

Ich hatte extreme Angst vor Bakterien, dass sie an meiner Kleidung, an meinen Schuhen, an meinen Händen kleben und ich dadurch alle Menschen umbringen könnte
Sirena, 17 aus Köln

„Ein paar Jahre später hatte ich extreme Angst vor Bakterien. Hatte Angst, dass an meiner Kleidung, an meinen Schuhen, an meinen Händen überall Bakterien kleben und ich dadurch alle Menschen umbringen könnte. Ich habe mir damals permanent die Hände gewaschen, bis sie anfingen zu bluten. Ich bin nicht mehr aus dem Haus gegangen, habe nur noch geschlafen, war mit meinem Leben absolut unglücklich. Meine Eltern haben einmal die Tür eingetreten, weil sie dachten, ich hätte mich umgebracht.“

Angst davor, negativ aufzufallen

Mit 13 Jahren beginnt Sirena ihre erste Psychotherapie, geht weiter zur Schule, irgendwann verflog die Angst vor Bakterien. Ihren Schulfreundinnen erzählt sie nichts davon, denn sie ist neu auf dem Gymnasium und möchte nicht negativ auffallen, sondern endlich dazugehören. „Ich wurde in der Grundschule häufig gemobbt. Ich sei hässlich, dumm, eben das ganze Programm. Es gab Listen in der Klasse mit den dicksten Mädchen, da stand ich ganz oben. Ich meinte Freundinnen zu haben, doch die haben mich alle nur verarscht. Meine Lehrerinnen und Lehrer haben die Augen verschlossen. Ich habe mich sehr einsam gefühlt“, erinnert sich die 17-Jährige.

Statt des schönen Lebens beginnt die Pandemie

In den folgenden Jahren leidet sie zwar immer wieder unter depressiven Tendenzen, doch die beeinflussen ihren Alltag – noch – nicht gravierend. Außerdem entwickelt sie neue Interessen, findet darüber auch Freunde und ist überzeugt: „Jetzt beginnt mein Leben!“ Doch stattdessen beginnt die Pandemie. Das Jahr 2020 ist noch ganz frisch.

Während der anschließenden Lockdowns kommt es immer mehr zu Problemen mit den Eltern. Auch sie sind mit der Situation überfordert. Schließlich wirft der Selbstmord des Großvaters die ganze Familie aus der Bahn. Sirena zieht sich immer mehr aus dem Online-Unterricht zurück, bricht die Schule ab und besucht wieder regelmäßig ihre Therapeutin, die ihr schon einmal geholfen hatte.

Eine Therapiestunde pro Woche genügt nicht mehr

Aber eine Stunde Therapie pro Woche genügt dieses Mal nicht mehr: „Mir ging es mega schlecht, ich lag nur noch heulend im Bett und wollte nicht weiterleben.“ Sechs Monate verbringt die damals 16-Jährige in einer Klinik. Lernt dort mit den Triggern, die sie in Panikattacken versetzten, umzugehen. Sie kennt jetzt die Skills, mit denen sie ihren Ängsten entgegentreten kann. Der Klinik-Aufenthalt und die andauernde ambulante Therapie haben die Probleme nicht beseitigt, aber Sirena kann sich inzwischen immer besser selbst helfen.

Es war für mich und meine Eltern ein sehr schwerer Schritt, mit 16, ohne Abschluss, die Schule zur schmeißen, aber es war die richtige Entscheidung, ich habe die Zeit gut überbrückt
Sierena, 17, aus Köln

Aktuell macht Sirena ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) im Kindergarten und arbeitet nebenher in einem Kölner Gemüseladen. „Es war für mich und meine Eltern ein sehr schwerer Schritt, mit 16, ohne Abschluss, die Schule zur schmeißen, aber es war die richtige Entscheidung. Ich habe die Zeit gut überbrückt. Im nächsten Jahr möchte ich auf ein Berufskolleg gehen, das Abi nachmachen und anschließend Soziale Arbeit oder Psychologie studieren.“

Jugendberatungsstelle der Stadt Köln hat geholfen

Bei der schulischen und beruflichen Orientierung hat Sirena auch die Jugendberatungsstelle für Arbeits- und Berufsfragen der Stadt Köln geholfen. „Dort hatten wir endlich das Gefühl, genau an der richtigen Stelle gelandet zu sein. Wir wurden nicht mit einem Beratungstermin abgespeist, bei dem alle Fragen, die sich manchmal erst im Laufe der Zeit ergeben, besprochen sein mussten – sondern uns wurde direkt eine begleitende Beratung angeboten. So dass immer wieder die zur jeweiligen Entwicklung passenden Fragen geklärt werden “, sagt Sirenas Mutter.

Ich habe nichts über meine mentalen Probleme gepostet, aber Videos zu diesem Thema gelikt. Seitdem wurde ich mit Depressionsvideos überschüttet
Sirena, 17, aus Köln

Und sie rät Betroffenen und allen, die ihnen helfen möchten, dringend dazu, sich selbst über das Krankheitsbild und die Behandlungsmöglichkeiten zu informieren.


Hier gibt's Hilfe - In Köln und im Netz

  1. Beratung bei Schulabbruch und/oder beruflicher Orientierung: Jugendberatungsstelle der Stadt Köln für Arbeits- und Berufsfragen, Mediapark 6B, 1. Etage, 50670 Köln 
  2. Hilfe für Schulverweigerer und familiäre Angelegenheiten: „Comeback“, Projekt des Hürther Vereins „Perspektiven für Kinder“ in Hürth (Freier Träger der Kinder- und Jugendhilfe), 02233/ 2089598
  3. Live-Chats im Netz: „Teech“ bietet Betroffenen einen kostenlosen Austausch mit Influencern über Angst- und Zwangsstörungen 
  4. Informationen über Zwangsstörungen: www.ocdland.com

Tik -Tok-Account gelöscht

Im Januar hat Sirena ihren Tik-Tok-Account gelöscht, weil diese Plattform für ihre psychische Gesundheit ein absoluter Killer gewesen sei. „Ich habe nichts über meine mentalen Probleme gepostet, aber Videos zu diesem Thema gelikt. Seitdem wurde ich mit Depressionsvideos überschüttet. Das brauche ich nicht.“ Zu ihrem 18. Geburtstag wünscht sich Sirena „über längere Zeit glücklich zu sein und nicht als die Kranke, sondern einfach als die wahrgenommen zu werden, die ich bin: Sirena.“