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ProjektErste Hilfe für die Seele

Lesezeit 4 Minuten

Jedes fünfte geflüchtete Kind leidet unter einem Trauma oder mehreren Traumata – Hilfsangebote sind rar.

Hinter einer Festung aus Plastikbausteinen lauern ein grimmiges grünes Männchen und ein fies grinsender Zwerg. Ein Boot fährt darauf zu, an Bord ein Playmobil-Männchen und eine kleine Plastiksonne auf zwei Beinen. Die Festung öffnet sich, die Figuren geraten in Streit. Der Zwerg springt auf den Plastikmann. „Hilfe, Hilfe“, murmelt Yousuf (Name geändert), der beide Figuren in den Händen hält. In einer kleinen grünen Sand-Wanne hat er die Szene aufgebaut und spielt versunken. Seine Hände graben den Sand um, schaufeln das Boot voll, verschütten die Festung und mit ihr die bösen Plastikwesen.

Yousufs Welt ist aus den Fugen geraten, im Spiel und in der Realität. Er wirkt angespannt. Yousuf gehört zu den jungen Teilnehmern einer Kindergruppe zur Traumabewältigung (Kitrab), die der Verein Akademie für Resilienz und Traumaberatung (A.R.T. e.V. ) regelmäßig in Kölner Flüchtlingsheimen veranstaltet – als „Erste Hilfe für die Seele.“ Kitrab soll Langzeitfolgen von Traumatisierungen vorbeugen.

Hilfe in der Gruppe

„Wir wissen, dass ein Großteil der geflüchteten Kinder traumatisiert ist. Jedem Kind eine Einzelbetreuung zu ermöglichen, wäre aus finanziellen und personellen Gründen nicht möglich. „Aufgrund der Gruppenarbeit erreichen wir dennoch viele Betroffene gleichzeitig“, sagt Gruppenleiterin Ingrid Hufen.

Studien zeigen, dass rund die Hälfte aller Flüchtlingskinder deutlich psychisch belastet ist. Rund 40 Prozent sind durch das Erlebte in wichtigen Lebensbereichen wie dem schulischen und den zwischenmenschlichen Beziehungen deutlich eingeschränkt. Jedes fünfte Kind erfüllt das Vollbild einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Somit sind Flüchtlingskinder 15-mal häufiger betroffen als in Deutschland geborene Kinder. Nach Aussage der Bundestherapeutenkammer werden psychisch kranke Flüchtlinge in Deutschland immer noch nur unzureichend versorgt.

Krieg im Mini-Sandkasten

Bei Kitrab erhalten jeweils zehn Kinder für insgesamt zehn Stunden in einem geschützten Raum die Gelegenheit, ihre Erlebnisse aufzuarbeiten – spielerisch, indem sie erlebte oder Phantasie-Szenen in einem eigenen Mini-Sandkasten nachstellen. Damit das möglichst gut gelingt, hat jedes Kind eine Traumahelferin oder einen Traumahelfer an seiner Seite. Sie sind ein wichtiger Teil der spielerischen Traumabewältigung. Hufen: „Das Geheimnis, das Kinder dazu bringt, loszulassen und sich ihren Gefühlen hinzugeben, ist die Sicherheit, die ihnen der immer gleiche Raum, dasselbe Setting und dieselbe Person vermittelt.“

Dabei sprechen die Helferinnen und Helfer nicht mit den Kindern – und mischen sich nicht in das Spiel ein. „Wir sehen die Sandbilder der Kinder als Spiegel ihrer Seele an“, sagt Hufen, „und in die greifen wir nicht ein, interpretieren und bewerten auch nicht“.

Die Frau an Yousufs Seite, Traumahelferin Gabriele Keuthen, freut sich, dass er so intensiv spielt und eine Chance hat, auf diese Art seine Erlebnisse zu verarbeiten. Sie waren schlimm – und lebensgefährlich.

Blutrache und Bomben

Details wollen und dürfen die Kitrab-Mitarbeiterinnen nicht erzählen. Yousuf darf nicht identifiziert werden, seine Familie floh vor einer Familien-Fehde aus der Heimat. Bei Kitrab gibt es viele, unvorstellbar schreckliche Erlebnisse aufzuarbeiten. Ein syrisches Mädchen musste miterleben, wie ihre Mutter erschossen wurde. Andere Kinder haben Angriffe und Bombardierungen erlebt, sind selbst angeschossen wurden, auf der Flucht fast erfroren, verdurstet oder ertrunken, mussten Angehörige in beängstigenden Situationen zurücklassen.

Die Folgen sind vielfältig: Zu Kitrab kommen Elfjährige, die wieder einnässen, Kinder, die sich in der Schule nicht konzentrieren können, aggressiv sind oder extrem schreckhaft. Sozialarbeiter vermitteln das Hilfsangebot, wenn sie realisieren, dass ein junger geflüchteter Mensch derart geartete Probleme hat. Mittlerweile kommen aber auch Väter und Mütter und bitten um Hilfe für ihr Kind.

„Das Vertrauen in unsere Arbeit hat zugenommen“, sagt Hufen. „Es hat sich herumgesprochen, dass wir den Kindern helfen können. 80 junge Menschen haben bisher in Köln und Aachen die niederschwellige Traumahilfe in Anspruch gekommen. Um genügend Traumahelferinnen und -helfer zur Verfügung zu haben, bildet der Verein ausgesuchte Ehrenamtler aus, für die es nach jeder Sitzung eine Supervision gibt. In jeder Gruppe sind zudem zwei Fachkräfte anwesend. Und Dolmetscher helfen bei der Anamnese. Das alles kostet selbstverständlich Geld, weshalb unter anderem auch „wir helfen“ den Verein unterstützt.

Spielend heilen

Angesichts der vielen Kinder, die eine Therapie benötigen, bedeutet das Angebot von Kitrab allerdings nur einen Tropfen auf den heißen Stein. Langfristig möchte A.R.T. e.V. sich mit dem Angebot zusätzlich an Schulen wenden, so dass auch deutsche Kinder, die Opfer von Gewalt wurden oder unter anderen Traumen leiden, in den Genuss einer spielerischen Traumabewältigung kommen können.

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