ProjektHand in Hand Richtung Zukunft
Köln – Als Julia Müller (Name geändert) im Herbst 2017 auf das Projekt „Plan27“ traf, war ihr Leben – milde ausgedrückt – aus dem Gleichgewicht geraten. Voraus ging eine lange Litanei an Leid: Wegen extremer Panikattacken verlor die damals 25-jährige Verkäuferin ihre Arbeitsstelle, musste einen Monat stationär behandelt werden – Diagnose: Posttraumatische Belastungsstörung.
Wiederkehrende psychische Gewaltakte in ihren Beziehungen und andere traumatische Erlebnisse erduldete sie im Drogenrausch, konsumierte Cannabis, Amphetamine und die Partydroge MDMA. Auch, um zu vergessen, dass sie schon von Kind an seelisch überfordert war. Mit der Trennung der Eltern, der alleinerziehenden Mutter, ihrem Anderssein, das sie zum Mobbing-Opfer machte, und mit mangelndem Selbstwertgefühl.
Der Alltag, ein schwarzes Loch
Julia sah sich außerstande, eine tragende Tagesstruktur, geschweige denn eine eigene, realistische Lebensperspektive zu entwickeln. Wie viele andere Jugendliche mit psychischen Problemen aber ohne Diagnose zog sie sich zurück, vermied den Kontakt zu anderen Menschen und lebte, wie sie selbst sagt, „in einem schwarzen Loch“. Zwar spürte sie, dass sie dringend Unterstützung brauchte, doch die – vor allem bürokratischen – Hürden der regulären Hilfsangebote erschienen ihr unüberwindbar. Was fehlte, waren Kraft, Mut, Entscheidungsfreude.
Um betreutes Wohnen zu beantragen, hätte Julia zum Beispiel eine fachärztliche Stellungnahme gebraucht. „Doch allein die Vorstellung, einen Arzttermin wahrnehmen zu müssen, hat mich komplett überfordert“, sagt die 26-Jährige, und fügt leise an, als würde sie sich heute dafür schämen: „Ich hätte jemanden gebraucht, der zu mir kommt, mich am Händchen hält und mich dabei begleitet, wieder in die Spur zu kommen.“
Schnelle, unbürokratische Hilfe
In Uwe Armbruster hat Julia im Oktober 2017 diesen „jemanden“ gefunden. Der Diplom-Heilpädagoge ist einer von drei Fachkräften des Modellprojekts „Plan 27“, das derzeit 39 junge Menschen mit psychischen Problemen in Kölns elf Sozialraumgebieten unterstützt. Aufsuchend. Individuell. Unbürokratisch.
Julia steht mit ihren Problemen nicht alleine da: Etliche Studien kommen zu dem ernüchternden Ergebnis: Immer mehr junge Menschen leiden unter psychischen Problemen wie Angststörungen, Depressionen, soziale Phobien oder Panikattacken. In den vergangenen zehn Jahren stieg der Anteil der 18- bis 25-Jährigen mit einer diagnostizierten psychischen Erkrankung um 38 Prozent, unter Depressionen leiden 76 Prozent mehr Heranwachsende als noch zehn Jahre zuvor. Häufig bringen diese psychischen Erkrankungen eine Vielzahl von weiteren Problemen mit sich – Wohnungslosigkeit, fehlende Schulabschlüsse und Ausbildungen oder Schulden.
Fehlende Diagnose, fehlende Perspektive
Jugendliche, die in stark belasteten Sozialräumen aufwachsen, sind häufiger betroffen. „Die Crux dabei ist, dass zu viele psychiatrische Beeinträchtigungen oder Erkrankungen lange Zeit nicht diagnostiziert werden“, sagt Lothar Mönch, Regionalleiter der Awo-Familienhilfeeinrichtung „Der Sommerberg“ in Kalk, einer der drei Träger des Modellprojekts. Dabei müssten sie dringend früh erkannt und behandelt werden, um eine berufliche Perspektive überhaupt in Angriff nehmen zu können.
Crux Nummer zwei: Aufgrund der Zurückgezogenheit, Antriebslosigkeit und Unfähigkeit dieser Jugendlichen, sich selbst aktiv Hilfe zu holen, gestaltet sich die Kontaktaufnahme zu ihnen äußerst schwierig – vorhandene Hilfsangebote wie Sozialpsychiatrische Zentren (SPZ), Beratungsstellen oder niedergelassene Ärzte greifen nicht. Um diese Lücke im Hilfesystem zu schließen, initiierte das Gesundheitsamt Köln im vergangenen Jahr das besonders niederschwellige Modellprojekt „Plan27“ , das sogenannte Zugehende Hilfe bietet – oder „Abholende Begleitung“, wie Uta Morgenroth vom Träger Nummer zwei, dem SPZ-Rodenkirchen, den Kern des kostenloses Angebots bezeichnet. In der Praxis bedeutet das, dass die drei Fachkräfte von „Plan27“ die Jugendlichen, deren Durchschnittsalter 22 Jahre beträgt, überwiegend zu Hause besuchen oder an neutralen Orten, in Cafés, Einkaufszentren oder U-Bahn-Haltestellen.
Nicht von Ratschlägen erschlagen
Als Julia im Herbst 2017 die Wohnungslosigkeit drohte, fiel ihr – wie es der Zufall so wollte – die Telefonnummer der Kalker Streetworker in die Hände. Die Sozialarbeiter schlugen ihr vor, sich an „Plan 27“ zu wenden – und begleiteten sie am 19. Oktober 2017 zum Erstgespräch. „Alleine hätte ich den Schritt nie gewagt, die innere Blockade war zu groß“, sagt Julia und erzählt, warum sie sich dort, trotz aller Ängste, vom ersten Moment an aufgehoben fühlte – und die Hilfe auch annehmen konnte.
„Mir wurde sofort Unterstützung angeboten. Hätte ich, nach meinem Entschluss, mir Hilfe zu suchen, monatelang auf einen Termin warten oder zig Anträge ausfüllen müssen, hätte ich aufgegeben.“ Auch charmant findet Julia, dass das Angebot an keine Voraussetzungen wie Suchtmittelfreiheit, strenge Zeitvorgaben oder Sanktionen im Fall von Ausfällen gebunden ist. „Ich habe nie Druck empfunden, wurde nicht mit Ratschlägen erschlagen.“ Das gab Julia das Gefühl, trotz enormer Entscheidungsdefizite selbst etwas bewirken zu können.
Zug um Zug – und Hand in Hand mit „Plan27“ – stabilisierte sich Julias Lebenssituation in nur sieben Monaten. Ein- bis zweimal die Woche traf sie sich mit Uwe Armbruster, um Wochenstrukturen oder Monatskalender zu erarbeiten, sich Hilfs- und Freizeitangebote wie das Kalker „U27“ anzuschauen, sich über Betreutes Wohnen und einen Ausbildungswechsel zu informieren – um beruhigt, bestärkt, ermutigt zu werden.
Endlich im Leben angekommen
„Besonders wichtig war für mich, dass Herr Armbruster mich begleitet hat, wenn ich das wünschte“, sagt Julia und zählt auf: Zur Aufnahme in die psychotherapeutische Tageseinrichtung der LVR-Klinik Merheim, zur Trauma- und Sucht-Ambulanz, zu Gesprächsgruppen und zum Jobcenter. Am 25. Mai endete die Begleitung von „Plan27“, Julia war ins Regelsystem eingebunden, wie es in Fachkreisen heißt, wenn ein junger Mensch wieder in das Gesellschafts-, Berufs-, Gesundheitssystem eingegliedert und damit aus der Einsamkeit befreit ist. Julias Unterstützung zum selbstständigen Wohnen ist angeleiert, eine kaufmännische Ausbildung anvisiert, die Zukunft angetreten.
Ende März 2019 läuft das Modellprojekt aus. „Die Anfragen und Ergebnisse haben uns eindeutig gezeigt, dass »Plan27« ein dringend notwendiges Angebot ist, um mit jungen Menschen eine Zukunftsperspektive zu entwickeln und erfolgreich umzusetzen“, sagt Barbara Schwartz, Leiterin der SPZ Nippes (Träger Nummer drei). Nur zwei von 39 Teilnehmern haben das Projekt abgebrochen, 35 konnten in ein oder mehr Regelangebote im Bereich Gesundheit, Schule/Beruf oder Wohnen vermittelt werden.
Bedarf bei weitem nicht gedeckt
„In den zwei Jahren hat sich auch gezeigt, dass wir weit davon entfernt sind, den Bedarf zu decken – nicht nur, wie vom Europäischen Sozialfonds vorgegeben, in den Sozialräumen“. Weshalb es von Nöten sei, dieses Projekt für das gesamte Stadtgebiet anzubieten und personell aufzustocken. Auch, um lange Wartelisten zu vermeiden, die betroffene junge Menschen wie Julia abschrecken würden.
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