Sprachförderung"Ich halte nichts von der Methode Schreiben nach Gehör"
Frau Ullrich, eine Studie der Stiftung Lesen legt nahe, dass Lesen und Vorlesen Kinder schlau macht. Stimmen Sie zu?
Ja! Vorlesen ist wichtig. Wenn Kinder ihre Eltern niemals lesen sehen und nie vorgelesen bekommen, entwickeln sie kaum Interesse am Lesen.
Zur Person
Maja Ullrich ist Diplom-Logopädin und in der logopädischen Praxis "Sigle" in Köln Lövenich tätig. Sie leitet das Fortbildungsinstitut für Sprachtherapie ("Logotrain") und gibt bundesweit Seminare im Bereich von Lese- und Rechtschreibstörungen.
Gemeinsam mit Isolde Wurzer erstellt sie für den Logofin-Verlag die Lautgesten-Lesemappe. Mit diesem Arbeitsbuch lernen Kinder mit lautbegleitenden Fingerzeichen Lesen.
Dennoch wird Kindern immer weniger vorgelesen.
Das liegt auch am zunehmenden digitalen Medienkonsum. Man sitzt vor dem PC und dem Tablet. Wenn ich Kinder und Eltern irgendwo beobachte, beschäftigen sich die Eltern oft mit ihrem Smartphone und Kinder spielen auf dem Tablet.
Welche Auswirkungen hat das?
Eine neue Studie zum Grammatikerwerb weist nach, dass Kinder viele grammatikalische Elemente heutzutage sehr viel später lernen als man das bislang angenommen hat. Eltern, die mit ihren Kindern viel spielen, lesen und sprechen, fördern deren Sprachentwicklung. Kinder, die vor dem Fernseher geparkt werden, mit denen spricht man ja nicht. Ihnen fehlt der Sprach-Input.
Die Lese- und Rechtschreibstörung, kurz LRS genannt, ist weit verbreitet. Woran liegt das?
Es kann ganz unterschiedliche Ursachen haben. Viele Kinder haben eine Art Teilleistungsstörung. Sie können nicht genau wahrnehmen, welche Laute sich in einem Wort befinden. Sie verwechseln ähnlich klingelnde Laute wie »k« und »g«. So haben sie dann Probleme, zum Beispiel Wörter wie »Garten« und »Karten« zu unterscheiden. Die Wahrnehmungsprobleme können im auditiven Bereich liegen, so dass die Kinder die Laute vom Hören her nicht unterscheiden. Wenn es visuelle Gründe hat, kann das Kind zum Beispiel ein »n« und ein »u« nicht unterscheiden. Wenn Kinder nur beim Lesen Probleme haben, liegt es oft daran, dass sie sich Buchstaben nicht merken und sie verbinden können.
Sie arbeiten gemeinsam mit Isolde Wurzer an einem Buch zu lautbegleitenden Fingerzeichen. Worum geht es dabei?
Es geht bei dieser Methode darum, dass beim lauten Lesen Lautgesten, also Fingerzeichen, zeitgleich verwendet werden. Sie helfen Leseanfängern, sich Buchstaben einzuprägen, ähnliche Buchstaben zu unterscheiden und Buchstaben zu Silben oder Wörtern zu verbinden. Die Kinder sollen etwa den Buchstaben »m« schreiben und ihn aus anderen Buchstaben heraussuchen. Sie müssen hören, ob das »m« in Wörtern enthalten ist und entsprechende Bilder ankreuzen. Wenn das Kind die Vokale kann, kommen die Konsonanten dran – alles mit Fingerzeichen. Je mehr Konsonanten dazukommen, desto mehr Silben und Wörter kann das Kind lesen. Die Kinder können sich mit dieser Methode die Buchstaben besser merken. Sie legen beim »m« Lesen zum Beispiel die Finger über die Lippen. So haben sie einen taktilen Reiz, weil sie die Finger an den Lippen spüren.
Ist das etwas ganz Neues?
Schon 1921 hat Franz Joseph Koch das Buch »Fingerlesen-Lesen als Gebärdenspiel« veröffentlicht, um gehörlosen Kindern das Lesen beizubringen.
Für wen ist die Methode noch geeignet?
Profitieren können Kinder, die die Verbindung von Buchstaben nicht hinbekommen. Aber es würde allen Kindern helfen, wenn flächendeckend in allen Fibeln lautbegleitende Fingerzeichen berücksichtigen würden.
Warum fallen Kinder mit LRS nicht auf?
Der Blick der Lehrer ist häufig nicht darauf gerichtet, so etwas zu erkennen. Kinder schaffen es oft bis zur dritten oder vierten Klasse, geübte Texte vorzulesen, obwohl sie kaum ein Wort entziffern können. Diese Lesetexte werden zu Hause geübt, vielleicht auch auswendig gelernt, und dann in der Schule heruntergerattert. Mit bestimmten logographemischen Strategien prägen sich Kinder dann Wörter ein. Zum Beispiel ist in dem Wort Hexe das »x« hervorstechend. Das Kind merkt sich anhand des »x« das Wort Hexe und liest dann alle Worte mit »x« als Hexe. Mit solchen Strategien fallen sie dann nicht auf. Wichtig ist aber, die Schwächen möglichst früh zu erkennen.
Wann sollte man mit Maßnahmen zur Leseförderung beginnen?
Das Beste ist, wenn man möglichst früh anfängt. Kindern vorzulesen, ist wichtig. Bücher vermitteln tolle Inhalte, es geht darum, das Interesse der Kinder für Bücher zu wecken. Wir benutzen verschiedene Fingerzeichen-Methoden auch in der logopädischen Praxis in Köln-Lövenich, in der ich tätig bin, zum Einstieg bei Kindern mit schweren Sprechentwicklungsstörungen. Mit Kindern mit massiven Aussprachestörungen üben wir schon im Vorschulalter Lesen mit den Fingerzeichen. In der Schule können sie dann schon lesen und haben einen unglaublich guten Einstieg in den Rechtschreiberwerb.
Wie ist denn Ihre Meinung zur umstrittenen Methode »Schreiben durch Gehör«?
Ehrlich gesagt, halte ich davon gar nichts. Diese Methode führt dazu, dass die Kinder einfach zwei Jahre lang Wörter falsch schreiben dürfen. Das Problem dabei ist: Wir merken uns, wie Wörter aussehen. Innerhalb von zwei Jahren prägen wir uns also sehr, sehr viele Wörter in unserem Sichtwortschatz ein. Wenn Kinder sich nun zwei Jahre lang falsch geschriebene Wörter einprägen, ist das ab der dritten Klasse unglaublich schwierig, diese falsche Schreibweise wieder herauszubekommen. Angeblich soll die Methode motivieren. Die Kinder können sehr schnell Wörter schreiben, so wie sie sie hören, etwa »heusa« für Häuser. Diese völlig falsche Schreibweise wird dann gelobt. Eltern dürfen noch nicht einmal korrigieren. Der Riesenfrust kommt dann in der dritten Klasse. Dann wird nämlich plötzlich auf korrektes Scheiben beharrt. Aber das Kind hat sich fast jedes Wort falsch eingeprägt. Meines Erachtens ist diese Methode mit ein Grund dafür, dass es so viele Kinder mit großen Schreibproblemen gibt.
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