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StraßenkinderZu Hause im Nirgendwo

Lesezeit 5 Minuten
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Wie alles begann, will Jessica (Name geändert) nicht erzählen. Nur so viel, dass es zu Hause oft gekracht hat. Irgendwann in diesem Sommer hielt sie es nicht mehr aus. Hat drei Tage lang überlegt, hat die Koffer gepackt und ist von zu Hause abgehauen. Raus aus Münster, in den Bus, allein und einsam ins Ungewisse. Gelandet ist sie in Köln, wo sie in diesem Sommer Wochen und Monate auf der Straße gelebt hat.

29 000 obdachlose Jungen und Mädchen

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe schätzt, dass bundesweit 335 000 Menschen teilweise und 39 000 Menschen dauerhaft auf der Straße leben – Tendenz stark steigend. Knapp neun Prozent – immerhin 29 000 Mädchen und Jungen – sind minderjährige Kinder und Jugendliche. Wie viele junge Menschen in Köln obdachlos sind, können auch Experten nicht sagen.

Die Straße ist ein hartes Pflaster für Menschen wie Jessica, die dort auf sich allein gestellt sind. Über Wasser gehalten hat sich die junge Frau damit, Passanten anzuschnorren. „Ich habe nicht viel bekommen, weil ich nicht wusste, wie man es gut macht“, sagt sie. Tagsüber hat sie sich im Umfeld des Kölner Hauptbahnhofs aufgehalten, nachts hat sie durchgemacht oder ist in S-Bahn-Züge eingestiegen. Geschlafen hat sie dort wenig: manchmal zwei, manchmal vier Stunden. Stattdessen wurde sie bestohlen und mehrmals ohne Fahrschein von Kontrolleuren erwischt. Jetzt läuft eine Anzeige eines Verkehrsunternehmens gegen sie.

Beratung und Zuflucht im Boje-Bus

Rettungsanker in der Krise war für Jessica der Boje-Bus auf dem Breslauer Platz am Hauptbahnhof. Boje steht für Beratung und Orientierung für Jugendliche und junge Erwachsene und ist so etwas wie ein mobiles Jugendzentrum, das in einem Bus untergebracht ist, der werktags auf dem Breslauer Platz parkt.

Der Boje-Bus wurde dem Verein Auf Achse von der KVB überlassen.

Fünf Mitarbeiter unterstützen hier jährlich 300 bis 400 Menschen bis 27 Jahre aus der Bahnhofsszene. Die Hilfe des Beratungsteams wird im Bahnhofsviertel dringend benötigt. Zum Boje-Bus kommen Mädchen, die mit dem neuen Freund ihrer Mutter nicht auskommen, und Jungs, deren Väter trinken und schlagen. Manche wurden in der Schule von Klassenkameraden gemobbt, manche erlebten häusliche Gewalt und sexuelle Übergriffe in der Familie und im Lebensumfeld. Die Geschichten sind so unterschiedlich wie die Jugendlichen selbst.

Schutzraum für obdachlose Teenager

Im Bus können sich die jungen Menschen aufwärmen und ins Internet gehen. Sie erhalten nicht nur zu essen zu und zu trinken, sondern können hier Bücher und Zeitschriften lesen. Zur Gesundheitsprävention gehört auch, dass drogenabhängige Jugendliche im Boje-Bus Spritzen wechseln und Kondome bekommen. „Es ist so etwas wie ein Schutzraum für die Jugendlichen“, sagt Sozialpädagogin Anja Köster. Boje ist eine Zusammenarbeit zwischen Auf Achse, dem Verein Kinder-, Jugend- und soziale Hilfen und dem Gesundheitsamt. Unterstützt wird es vom Amt für Soziales und Senioren.

Anja Köster, (v.l.), Hedwig Neven DuMont und Joshua Gesterding im Boje-Bus am Breslauer Platz

Seit einem Jahr bietet Auf Achse im Bus auch die von „wir helfen“ finanzierte Beratung „Boot“ an, in dem die Sozialpädagogen den Jugendlichen Perspektiven aufzeigen, um aus der Straßenszene herauszukommen. Ziel ist es in erster Linie, Jugendliche eine feste Unterkunft zu vermitteln. Doch bis dahin ist es ein weiter Weg. Das Team um Anja Köster und Joshua Gesterding hatte mit Jessica Personalausweis, Kranken- und Rentenversicherung, Grundsicherung und Kindergeld beantragt. „Es geht nicht nur um die Wohnung, davor gibt es 2000 andere Themen, die man bearbeiten muss“, sagt Köster. Eine eigene Wohnung hat Jessica jetzt in Aussicht, derzeit wohnt sie bei ihrem Freund.

Den Überblick über das Leben verloren

Auch die Geschichte von Tobias (Name geändert) könnte eine positive Wendung nehmen. Den Weg zum Boje-Projekt fand der 19-Jährige über Bekannte, die er am Bahnhof kennenlernte. Er war obdachlos, ohne Geld und nicht krankenversichert, den Überblick über seine Situation hatte er längst verloren. Der Kontakt zu seiner Familie war abgerissen, zu seiner Pflegefamilie nur sporadisch. Tobias hielt sich tags und nachts an öffentlichen Orten auf, überwiegend verbrachte er seine Zeit am Kölner Hauptbahnhof. Gesundheitlich war er angeschlagen, konsumierte synthetische Drogen und litt unter Schlafentzug. Zudem befürchtete er, sich mit HIV infiziert zu haben. Nicht genug damit: Tobias hatte strafrechtliche Konsequenzen zu erwarten, weil er mehrmals ohne Fahrkarte öffentliche Verkehrsmittel benutzt hatte. Vorher war er bereits zweimal in Jugendhaft.

Es dauert Monate, bis der junge Mann so viel Vertrauen in die Helfer hatte, bis er in das „Boot“-Projekt einstieg. Auch bei Tobias war die Liste der Dinge, die die Sozialarbeiter erledigen mussten lang:

Traumatisiert und ohne Pass

Sie waren mit ihm in einer Ambulanz, wo bei ihm eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert wurde, und organisierten eine ärztliche Betreuung über den Mobilen Medizinischen Dienst. Sie beantragen finanzielle Leistungen (Kindergeld, Hartz IV), nahmen Kontakt zur Staatsanwaltschaft und der Straffälligen-Hilfe auf. Sie gaben ihm einen Überblick über seine Schulden und versuchten Stundungen zu erreichen. Sie stellten einen Kontakt zur Pflegefamilie her und verschafften ihm Personalausweis und Postadresse. Die Liste ließe sich erweitern.

Entscheidend war, dass Tobias nicht absprang. Seit einem Jahr lebt er in einer Einrichtung im Rahmen des betreuten Wohnens. Er steht kurz vor der einer stationären Behandlung seiner Suchterkrankung, erhält anschließend eine Reha und strebt langfristig eine Maler-Ausbildung an.

Auch Jessica glaubt nun wieder an ihre Zukunft. Sie will ihren Hauptschulabschluss nachholen und später eine Lehre machen. „Ich möchte einmal als Verkäuferin arbeiten.“