An der Web-Individualschule haben Kinder, die keine Regelschule besuchen können, die Chance auf einen Abschluss. Eine Mutter aus Leverkusen berichtet.
Web-IndividualschuleDamit kein Schulkind vergessen wird
„Meine beiden Söhne sind Autisten und haben ADHS, der Jüngere zusätzlich eine Lese- und Rechtschreibstörung. Nach den Diagnosen, die zwei Jahre aufeinander folgten, war ich zunächst geschockt. Ich musste es aber akzeptieren, habe diese Herausforderung angenommen und kämpfe täglich dafür, dass meine Kinder adäquat beschult werden, um irgendwann selbstständig leben zu können“, sagt die alleinerziehende Mona Roth aus Leverkusen (Name geändert).
Bei der Suche nach einer optimalen Beschulung ihrer Söhne habe Mona Roth laut eigener Aussage trotz der ärztlichen Autismus- und ADHS-Diagnosen nur wenig Unterstützung von den zuständigen Ämtern erhalten. Die unzähligen Gespräche mit der Schulleitung, dem Schul- und dem Jugendamt seien nicht immer zielführend verlaufen. So habe weder der Wechsel von der Regel- auf die Förderschule noch eine Schulbegleitung die Situation der Söhne nachhaltig verbessern können.
Für junge Menschen, die keine Regelschule besuchen können
„Autistische Kinder sind ja nicht dumm, sie brauchen nur andere Rahmenbedingungen zum Lernen und für den schulischen Alltag. Deshalb fand ich auch den Vorschlag, es mit einem Internat zu versuchen, für ein autistisches Kind unsinnig, da es dort genauso laut zugeht wie auf jeder Regelschule, was gerade in unserem Fall ein Problem ist“, sagt Roth.
Bei einer intensiven Suche im Netz ist die 42-Jährige schließlich auf die Web-Individualschule in Bochum gestoßen. Die Online-Schule ist speziell auf Kinder und Jugendliche ausgerichtet, die keine Regelschule besuchen können, weil sie etwa unter Schulangst, Autismus oder einer chronischen Erkrankung leiden. Der Unterricht findet ausschließlich online statt, mit nur einer Lehrkraft pro Schüler, beziehungsweise Schülerin, womit eine 1:1-Betreuung garantiert ist – und das Lerntempo individuell auf das jeweilige Kind abgestimmt werden kann.
Schulpflicht für 13-jährigen Jungen aus Leverkusen ruht seit zwei Jahren
Das Konzept hat Roth sofort überzeugt. Da ihr Sohn Max (Name geändert) damals schon seit einem Jahr nicht mehr zur Schule ging, stellte sie beim zuständigen Jugendamt einen Antrag auf Eingliederungshilfe, der auch umgehend bewilligt wurde. Inzwischen „besucht“ Max seit vier Jahren die Web-Individualschule. Da sein Neigungsfach Englisch war, wurde er am Anfang nur in Englisch unterrichtet, mittlerweile sind andere Fächer hinzugekommen und das Lerntempo wurde erhöht.
„Ich bin mit dieser Schule sehr zufrieden. Mein Sohn macht gute Fortschritte und freut sich immer auf seinen Lehrer“, sagt Roth. Genau das wünscht sie sich auch für ihren Sohn Julian (Name geändert). Der 13-Jährige hat bislang alle offiziellen Eingliederungsmaßnahmen erfolglos durchlaufen, weshalb seine Schulpflicht seit zwei Jahren ruht. Den Antrag auf Übernahme der Kosten für die Web-Individualschule hat das Jugendamt dennoch abgelehnt. „Ich bin fassungslos. Julian sitzt täglich zu Hause und ich versuche ihn spielerisch zu unterrichten. Wir backen zusammen, mit dem Wiegen der Zutaten lernt er so wenigstens ein bisschen Rechnen“, sagt Roth, die jetzt einen Rechtsbeistand hinzugezogen hat.
Schulpflicht versus seelisches Wohl der Kinder
Die Schulleiterin der Web-Individualschule, Sarah Lichtenberger, weiß, dass eine Kostenübernahme unter Umständen ein sehr langwieriger Prozess sein – und bis zu zwei Jahren dauern kann. Sie kritisiert, dass es immer noch zu viele Hürden und amtliche Fallstricke bei der Antragsstellung gebe und manche Jugendämter, „die Schulpflicht höher hängen als das seelische Wohl dieser Kinder.“
Damit betroffene junge Menschen, die auf eine staatliche Kostenübernahme warten, in dieser Zeit nicht unbeschult zu Hause herumsitzen müssen, haben Lichtenberger und Kollegen im Jahr 2012 den gemeinnützigen Förderverein „Freunde und Förderer der Web-Individualschule“ gegründet. „Mit dem Geld möchten wir Stipendien für Familien vergeben, die keine Unterstützung des Jugendamts erhalten und selbst nicht genügend finanzielle Mittel aufbringen können.“
Mehr als 1.000 Euro Schulgeld kann Alleinerziehende nicht finanzieren
Wie Mona Roth. „Das Schulgeld beträgt mehr als 1000 Euro pro Monat, das kann ich mir nicht leisten, da bin ich auf Hilfe angewiesen,“ sagt die alleinerziehende Mutter, die aufgrund der Beeinträchtigungen ihrer beiden Söhne ihren Job aufgeben musste. Doch das Geld des Fördervereins genügt derzeit gerade für zwei Stipendien, die schon vergeben sind – der Bedarf ist allerdings wesentlich höher.
Die Web-Individualschule mit Stammsitz in Bochum ist eine Bildungseinrichtung in privater Trägerschaft und seit 2006 zugelassene Fernschule der Staatlichen Zentralstelle für Fernunterricht (ZFU). Im Rahmen einer externen Abschlussprüfung können die Schülerinnen und Schüler einen Haupt- und Realschulabschluss und das Abitur machen. Aktuell werden dort 350 Schüler und Schülerinnen von insgesamt 50 Lehrkräften unterrichtet.
In den vergangenen knapp 20 Jahren war es möglich, dass alle Absolventen, egal aus welchem Bundesland sie stammen, ihr e staatlich anerkannte Abschlussprüfung an einer Kooperationsschule in Bochum ablegen konnten. Doch laut einer neusten NRW-Verordnung müssen die Jugendlichen jetzt ihre Abschlussprüfung gemäß des sogenannten Wohnortprinzips im jeweiligen Heimatbundesland – und in Präsenz – ablegen. Dafür hat Lichtenberger keinerlei Verständnis.
Auf spezielle Schülerschaft abgestimmter Lernstoff
„Diese Verordnung zwingt uns, den auf unsere spezielle Schülerschaft abgestimmten und seit Jahren bewährten Lernstoff auf die Lehrpläne der 16 Bundesländer umzustellen, das ist Wahnsinn. Außerdem darf die ihnen jeweils aus dem Online-Unterricht vertraute Lehrkraft bei der externen Prüfung nicht anwesend sein. Wir sind ein anerkannter Träger der ambulanten Jugendhilfe und entlasten mit unserem Schulangebot die Regelschulen, das scheint im Kultusministerium noch nicht angekommen zu sein“, kritisiert Lichtenberger.
Die Schulleiterin fordert, dass ihre Schule – ebenso wie die Universitäten in NRW – weiterhin digitale Abschlussprüfungen für erkrankte Kinder anbieten kann und die Präsenzpflicht entfällt. „Ich wünsche mir mehr Akzeptanz für alternative Schulkonzepte, die konsequent ausgebremst werden, obwohl hinlänglich bekannt ist, dass die deutsche Bildungspolitik nicht jedem Kind gerecht werden kann und viele Schülerinnen und Schüler schlichtweg vergisst.“
13-jähriger Junge aus Leverkusen verliert wichtige Lebenszeit
Wann Julian an der privaten Fernschule unterrichtet werden kann, ist offen. Das Jugendamt in Leverkusen ist, nach dem Widerspruch gegen den negativen Bescheid, noch in der Prüfungsphase, obwohl der 13-Jährige alle Voraussetzungen für eine Kostenübernahme erfüllt: Der schulpädagogische Förderbedarf ist ausgeschöpft und seine Schulpflicht ruht. „Ich wünsche mir so sehr, dass mein Sohn endlich unterrichtet wird. Es macht mich traurig, dass Julian täglich zu Hause sitzt, keine professionellen pädagogischen Impulse erhält und wichtige Zeit verliert“, bedauert Roth.
„Die Bildungspolitik hat unfassbar wenig Verständnis für diese besondere Schülerschaft und setzt betroffene Jugendliche einem behördlichen Spießrutenlauf aus. Inklusionsunterricht lässt sich nicht in ein Korsett pressen, es gibt Kinder, die eine Einzelförderung brauchen, auch um damit eine Chance zu erhalten, wieder in die Regelschule zurückzukehren“, sagt Lichtenberger.