AboAbonnieren

Young CarersViel zu jung für Haushalt und Verantwortung

Lesezeit 4 Minuten
Ein Mädchen mit roten Haaren steht am Spülbecken und spült ein Bierglas ab.

Mindestens 480.000 Minderjährige kümmern sich in Deutschland ständig um hilfsbedürftige Familienmitglieder.

Kinder und Jugendliche, die regelmäßig ihre erkrankten Angehörigen pflegen, führen oft ein Schattendasein. Sie brauchen dringend Hilfe.

Sie führen häufig ein Schattendasein: Jungen und Mädchen unter 18 Jahren, die ihre Angehörigen pflegen. Denn die meisten dieser „Young Carers“ (junge Pflegende) verschweigen ihre Situation. Aus Angst, Scham und Vorsicht. Sie haben Bedenken, ausgegrenzt oder von ihrer Familie getrennt zu werden, weil Behörden ihren familiären Hintergrund als nicht tragbar einschätzen könnten.

„Young Carers“ sind hierzulande aber keine Seltenheit. In Deutschland kümmern sich laut einer Studie der Universität Witten-Herdecke etwa 480.000 junge Menschen zwischen zehn und 18 Jahren um hilfsbedürftige Angehörige. Das entspricht 6,1 Prozent aller Jugendlichen dieser Altersgruppe. In Köln leben geschätzte 6.000 Kinder und Jugendliche, die zu Hause pflegen. Weil viele Betroffene aber nicht über ihre Situation sprechen, schätzen Experten die Dunkelziffer wesentlich höher ein. Statistisch dürfte damit in jeder Klasse einer weiterführenden Schule mindestens ein „Young Carer“sitzen.

Vertauschte Rollen

Die Stiftung Kindergesundheit macht jetzt erneut auf die alltäglichen Belastungen dieser unbeachteten jungen Menschen aufmerksam. Denn sie tragen viel zu früh eine viel zu große Verantwortung für die Pflege und den Haushalt. In ihren Familien sind die Rollen vertauscht: Kinder werden notgedrungen zu Erwachsenen, füllen die Lücken, die entstehen, wenn Vater oder Mutter chronisch erkrankt oder anderweitig hilfsbedürftig sind und beispielsweise nicht mehr kochen, nicht mehr alleine laufen können und nachts zur Toilette gebracht werden müssen.

Einige „Young Carers“ wachsen allmählich in die Rolle der pflegenden Hilfskraft hinein, nämlich dann, Vater oder Mutter an einer chronischen oder langsam fortschreitenden Erkrankung wie Rheuma, Depression, Multipler Sklerose, Krebs oder Demenz leiden. Andere betroffene Kinder müssen sich um ein behindertes oder körperlich eingeschränktes Familienmitglied kümmern, um einen alkohol- oder drogenabhängigen Angehörigen.

Keine Kindheit, die diesen Namen verdient

Der Schweregrad der Krankheit und die daraus resultierende Hilfsbedürftigkeit bestimmen maßgeblich, wie stark der Alltag der Kinder und Jugendlichen davon beeinflusst ist. Auch die Familienstruktur – etwa, ob der Elternteil alleinerziehend ist oder ob Geschwister im Haushalt leben – sowie die finanzielle Situation spielen eine entscheidende Rolle.

Die Aufgaben, die junge Pflegende übernehmen, sind vielfältig: Sie kochen, putzen, kaufen ein, pflegen, waschen, begleiten ihre Angehörigen zu Terminen, kümmern sich um jüngere Geschwister. Sie legen Verbände an, verabreichen Medikamente oder Spritzen. Sie kommunizieren mit Ärzten, Krankenkassen, halten die Finanzen im Blick.

In ständiger Alarmbereitschaft

Sie sind in ständiger Alarmbereitschaft, auf Veränderungen, Bedrohungen oder Symptome der Krankheit ihrer Angehörigen reagieren zu müssen. Für Hobbys, Hausaufgaben und Freunde bleibt daneben wenig Zeit. Oft ist den jungen Pflegenden nicht bewusst, wie immens groß ihre Belastung ist. Sie helfen, weil es für sie selbstverständlich ist. Oder weil ihnen der Zugang zu qualifizierter Beratung fehlt.

Laut einer Studie der Stiftung ZQP, im Rahmen derer mehr als 1000 12- bis 17-Jährige mit und ohne pflegebedürftige Angehörige befragt wurden, kann die Pflege in einem gewissen Ausmaß auch positive Auswirkungen haben. So berichteten einige „Young Carers“ von einem stärkeren Familienzusammenhalt, einem größeren Selbstwertgefühl, mehr Reife im Vergleich zu Gleichaltrigen und dem Gefühl, gut auf das Leben vorbereitet zu sein.

Schlechtere Bildungschancen

Dominiert die Pflegeverantwortung jedoch den Alltag der „Young Carers“ sind sie häufig stark belastet, körperlich wie psychisch. Täglich sehen sie das Leid ihrer Angehörigen, sind müde, können sich schlechter konzentrieren, worunter meist auch ihre sozialen Kontakte und schulischen Leistungen leiden. Damit sind ihre Bildungschancen schlechter als die ihrer Altersgenossen.

„Young Carers“ leiden oft unter psychosomatischen Symptomen oder psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Burnout, Ess- oder Schlafstörungen. „Es ist wichtig, dass wir Verständnis für betroffene Familien zeigen und deren Bedürfnisse besser erkennen. Kein junger Mensch sollte mit dieser Last allein gelassen werden“, mahnt Berthold Koletzko, Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit. Er betont, dass neben Hilfsangeboten und Kontaktstellen auch eine politische Antwort auf die hohe Anzahl junger Pflegender in Deutschland notwendig sei.

Kein junger Mensch sollte mit dieser Last allein gelassen werden
Berthold Koletzko, Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit.

Und: „Um diese Kinder und Jugendlichen besser zu unterstützen, müssen wir als Gesellschaft dringend handeln und gezielte Maßnahmen ergreifen.“ Das Schweigen brechen Fachkräfte müssten beispielsweise regelmäßig fortgebildet und sensibilisiert werden, um die Bedürfnisse von „Young Carers“ erkennen und angemessen darauf reagieren zu können. Schulen und Kindergärten sollten verstärkt auf deren besondere Herausforderungen achten und spezielle Hilfsangebote zur Verfügung stellen. Pflegeberatungsstellen dürften junge Pflegende nicht vernachlässigen und spezialisierte Beratungsangebote müssten breit beworben werden.

Zwar werden „Young Carers“ bislang noch viel zu häufig übersehen. Dennoch haben sich einige Hilfsangebote auf sie spezialisiert. Darüber hinaus sind wir alle gefragt, „Young Carers“ helfend zur Seite zu stehen – zumindest aber Verständnis für deren familiäre Situation aufzubringen. Damit sich die betroffenen Kinder und Jugendlichen nicht weiter für die Erkrankung ihrer Eltern schämen müssen und den Mut aufbringen können, über ihre Nöte zu sprechen. Reden hilft.


Hier gibt's Hilfe für Kinder,die ihre Angehörige pflegen

  1. Die „An deiner Seite-Stiftung unterstützt junge Nahestehende von Menschen, die aufgrund von Krankheit oder Behinderung dauerhaft auf die Hilfe anderer angewiesen sind.
  2. Die beiden digitalen Plattformen „youngcarercoach“ und „young carers“ bieten jungen Pflegenden Neuigkeiten, Termine, Kontaktstellen und die Möglichkeit zum Austausch
  3. Bei der Nummer gegen Kummer (Telefon: 116111) und der Online-Beratung der Berliner Fachstelle „Echt unersetzlich“ können junge Pflegende anonym über ihre Sorgen und Gefühle sprechen oder schreiben und so Entlastung erfahren.
  4. Die Initiative „Pausentaste“ des Bundesfamilienministeriums bietet jungen Betroffenen Beratung, Hilfe und Informationen
  5. Spezielle Angebote aus Köln und der Region sind etwa die (anonmye) Online-Beratung der Caritas, der Drogenhilfe Köln („KidKit“) oder des Kinderschutzbunds für Kinder sucht- oder psychisch kranker Eltern