Zartbitter e.V. klärt in Kölner Kitas aufNoch Doktorspiel oder schon sexuelle Gewalt?
* Der folgende Text ist in enger Kooperation mit Psychologinnen und Experten der Fachstelle gegen sexuellen Missbrauch „Zartbitter e.V.“ entstanden. Er enthält an einigen Stellen sehr eindeutige und für manche Leser sicher schwer zu ertragende sexuelle Beschreibungen. Das bitten wir zu entschuldigen, doch es dient der Aufklärung über ein weit verbreitetes Phänomen, das es zu verhindern und professionell zu begleiten gilt.
Drei Jahre ist es her, dass Lisa (Name geändert), damals dreieinhalb, sich schleichend befremdlich verhält. Einmal zieht sie im Supermarkt ihre Hose herunter und streckt wildfremden Passanten ihren Po entgegen. Ein andermal greift sie ihrem Vater zwischen die Beine, mit Worten, die nicht zum Sprachschatz einer Dreieinhalbjährigen gehören sollten. Immer wieder zieht sie sich aus, wenn Kinder sie nicht mitspielen lassen.
Lisas Eltern verunsichert dieses ungewohnt sexualisierte Verhalten stark, doch sie wollen nicht überreagieren, beruhigen sich, indem sie sich sagen, dass das nur eine Phase in der Entwicklung der kindlichen Sexualität sei – „Obwohl ich schon länger ein tiefes, instinktives Gefühl hatte, dass mit der Gruppendynamik in der Kita etwas nicht stimmt“, sagt Lisas Mutter heute.
Sie erzählt von einer Szene, in der ein Mädchen nur in Unterhose bekleidet am Frühstückstisch gesessen habe. Davon, wie ein anderer Vater beobachtet habe, dass sich drei Jungen in der Turnhalle gegenseitig an die Genitalien fassten. Und dass bekanntgewesen sei, dass die Kita-Kinder immer wieder Verstecke bauten, in denen sie Handlungen der Erwachsensexualität imitierten. „Mehrfach habe ich deshalb das Gespräch mit dem Kita-Personal gesucht, doch ich bekam immer wieder das Gleiche zu hören: »Die Kinder probieren sich aus, das ist normal!«“
Weit verbreitetes Phänomen
Die Kölner Kita ist kein Einzelfall, das Problem nicht neu: Sexuelle Übergriffe durch Kinder finden schon immer, jedoch weitgehend unbemerkt, statt. Erst in den vergangenen Jahren wird das Thema fachlich diskutiert, werden Ansätze zum Erkennen, Eingreifen und Verhindern entwickelt. Auf einen Missbrauch eines Kindes durch einen Erwachsenen kommen statistisch sieben Fälle sexueller Gewalt unter Kindern – egal welcher kulturellen oder sozialen Herkunft. „Es ist ein Phänomen, dass sich durch alle sozialen Strukturen zieht“, weiß Jörg Nitschke, Dozent des Instituts für Sexualpädagogik.
Als Lisa zu Hause erzählt, dass zwei ältere Jungen aus der Kita, Max, 5, und Malte, 6, (Namen geändert) ihr gedroht hätten, ihr Gewalt anzutun, sind sie alarmiert – und entdecken bei der abendlichen Waschzeremonie eine Verletzung in Lisas Genitalbereich. Sie haken nach und erfahren, dass der ältere Junge versucht habe, ihr einen Bauklotz einzuführen. Eine Ärztin bestätigt kurz darauf, dass die Verletzungen von einem harten Gegenstand herrühren. Eine kaum zu ertragene Vorstellung, doch was folgt, ist nicht minder unvorstellbar und gleicht einem Spießrutenlauf der Schuldzuweisungen.
Spießrutenlauf
Lisas Eltern, die sich einen sachlichen Umgang mit dem Übergriff wünschen, treffen auf das Gegenteil: auf Unverständnis, Ablehnung, Bagatellisierung. Maltes Mutter dreht den Spieß herum und behauptet, Lisa provoziere, weil sie sich ständig ausziehe. Max’ Mutter bestätigt Lisas Aussagen zwar. Max habe erzählt, dass sie sich eine Höhle gebaut hätten und Malte Lisa aufgefordert habe, ihre Genitalien zu zeigen, um zu versuchen, einen Bauklotz hineinzustecken. Als er es schließlich mit Gewalt versuchte, sei Max zur Erzieherin gelaufen, um sie zur Hilfe zu holen. Doch Lisas Eltern darüber zu informieren, haben weder Max’ Mutter noch die Kita-Leitung für nötig gehalten – „Die Kinder probieren sich aus, das ist normal!“
„Ich war fassungslos, dass uns niemand von dem Vorfall erzählt hat und auch zu keinem späteren Zeitpunkt hatten wir das Gefühl, dass unsere Sorgen von der Kita-Leitung ernst genommen werden,“ sagt Lisas Mutter. Mehr noch: „Wir wurden als neurotische Helikoptereltern abgecancelt und unsere Bitte, Lisa nicht mehr unbeobachtet mit dem übergriffigen Jungen spielen zu lassen, ignoriert.“
Unsicherheiten im Alltag
Dass es in der Praxis große Unsicherheiten gibt mit der Folge, dass so manche sexuelle Aktivität unnötig unterbunden wird oder im Gegenteil, Übergriffe übersehen werden, weiß auch Ulli Freund, Autorin des Buches „Sexuelle Übergriffe unter Kindern“.
Die meisten Konflikte zwischen pädagogischem Personal und Eltern hätten genau hier ihre Ursache, dass Pädagoginnen und Pädagogen fachlich nicht einschätzen können, wo kindliche Sexualität aufhört und sexuelle Übergriffe beginnen. „Diese Unsicherheit ist kein persönliches Versagen, sie hat strukturelle Ursachen: Bis heute werden künftige Erzieherinnen und Erzieher in ihrer Ausbildung kaum auf das Thema vorbereitet.“
Lisas Eltern entscheiden, ihre Tochter vorerst zu Hause zu lassen und wenden sich an „Zartbitter“, um bei der Kölner Fachstelle gegen sexuellen Missbrauch Hilfe für Lisa und Klarheit für sich selbst zu finden. Lisa nässt immer häufiger ein, wird von Alpträumen geplagt und hält körperliche Distanz zu ihr vertrauten Personen – was es bis dato nie gegeben hat. Die Eltern selbst sind stark verunsichert und belastet. Bei „Zartbitter“ wird ihnen erstmals Glaube geschenkt. „Wir fühlten uns von der ersten Minute an ernst genommen mit unseren Sorgen“ sagt Lisas Mutter, „erfuhren auch, dass die Chancen gut stehen, dass Lisa ihre traumatischen Erlebnisse ohne Langzeitfolgen verarbeiten kann.“
Chance auf Heilung
„Wenn Hinweise von Kindern auf sexuelle Übergriffe durch andere Kinder ernst genommen werden, erholen sie sich häufig – auch ohne langfristige therapeutische Unterstützung“, sagt „Zartbitter“-Leiterin Ursula Enders. Voraussetzung für einen professionellen Umgang sei jedoch, dass das Personal der jeweiligen Kitas oder Grundschulen adäquat reagiere, die Sorgen der Eltern ernst nähme und zeitnah spezialisierte Hilfe und Schutzräume für die betroffenen Kinder organisiere. Zwar beobachteten die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von „Zartbitter“ in den vergangenen Jahren eine positive Entwicklung: Viele Kölner Kita-Teams setzten sich inzwischen engagiert mit der Problematik auseinander.
„Doch häufig steht einem professionellen Umgang die Tatsache entgegen, dass das Thema »kindliche Sexualität« mit vielen Klischees behaftet ist“ sagt Enders. Sexuelle Übergriffe unter Kindern würden häufig als Folge eines beobachteten Geschlechtsverkehrs von Erwachsenen – live oder im Film – bagatellisiert. Was fatal sein kann, denn sie können ein Hinweis sein auf eigene Gewalterfahrungen durch andere Kinder, Jugendliche oder Erwachsene – in und außerhalb der Familie.
Ernstzunehmender Hilferuf
„Wenn Kinder sexuelle Gewalt erlebt haben, bewegen und verhalten sie sich häufig verstärkt sexualisiert, da sie die belastenden Erfahrungen nicht mit Worten ausdrücken können“, sagt die „Zartbitter“-Kindertherapeutin Ilka Villier. Wie auch Lisa, die sich ständig auszieht, reinszenieren betroffene Kinder das erlebte Geschehen – quasi als Hilferuf. „Unsere Erfahrung zeigt, dass die meisten Kinder das sexualisierte Verhalten in dem Moment aufgeben, in dem sie von ihrer Umwelt verstanden und unterstützt werden“, sagt Villier. Dass Kinder anderen Kindern sexuelle Gewalt antun, kann auch andere Ursachen haben – soziale, körperliche oder emotionale Vernachlässigung zum Beispiel, Mobbing und andere Demütigungen oder häusliche Gewalt. Auch im vermehrten Pornografiekonsum von Kindern im Internet sehen Experten eine Ursache.
Damit andere Kinder und Eltern nicht das Gleiche durchleben müssen wie Lisas Familie, hat „Zartbitter“ das von „wir helfen“ unterstützte Präventionsprojekt „Sina und Tim“ entwickelt und auf den Weg, beziehungsweise in die Kitas gebracht. Herzstück ist das Puppentheater „Sina und Tim spielen Doktor“, ein lebensfrohes Stück zum Schutz vor sexuellen Grenzverletzungen durch Kinder, das in den vergangenen 18 Monaten rund 150 mal aufgeführt wurde. Es thematisiert Doktorspiele und Zärtlichkeiten zwischen Kindern – und vermittelt parallel grenzachtende Regeln. Am Ende bekommt jedes Kind ein Pappbilderbuch zum Thema.
Theater für Eltern und Kinder
Ein weiterer Baustein des Projekts ist ein Elternabend, an dem das Theaterstück gezeigt und in einem Fachvortrag über altersentsprechende kindliche Sexualität, Grenzverletzungen und adäquates Vorgehen bei Übergriffen informiert wird. Als besonderes Extra erhalten alle Eltern eine dank „wir helfen“ in zwölf Sprachen übersetzte Broschüre zum Thema. Zusätzlich bietet „Zartbitter“ eine zweistündige Informationsveranstaltung für Kölner Kita-Teams an, für Fachschulen der Sozialpädagogik und Uni-Seminare. „Ziel unseres Projekts ist, dass Grenzverletzungen erkannt und ernst genommen werden, und dass in möglichst vielen Kitas klare Regeln und eine offene Kommunikation zum Thema selbstverständlich werden“, sagt Enders. Denn das Risiko, dass es in Kitas zu sexuellen Übergriffen kommt, sei erhöht, wenn es keine klaren Regeln zum Umgang mit kindlicher Sexualität gebe. „Sexuell aggressive Kinder denken, wenn ihr Handeln nicht korrigiert und gestoppt wird, ihr Verhalten sei richtig“, sagt Enders.
Stärkende Botschaften
Umgekehrt stelle die Erfahrung, dass ein sexueller Übergriff nicht bagatellisiert oder unter den Teppich gekehrt wird, einen gewissen Schutz vor sexuellem Missbrauch dar. Denn das betroffene Kind lerne, dass seine Grenzen nicht verletzt werden dürfen, dass solche Übergriffe unrecht sind und dass es darauf vertrauen kann, Hilfe und Unterstützung zu bekommen. Enders: „Das sind stärkende Botschaften gegen sexuelle Gewalt im weiteren Leben.“
Auch Lisa ist gestärkt. Dank der viermonatigen Spieltherapie bei Ilka Villier. Durch sie hat Lisa nach und nach Sicherheit gewonnen und konnte sich auf Freunde in der neuen Kita einlassen. „Parallel haben die Mitarbeiterinnen von Zartbitter meinen Mann und mich beraten, wie wir Lisas Wutanfälle, Alpträume und Sozialängste aushalten und sie dabei unterstützen können, ihre Erlebnisse zu verarbeiten“, sagt Lisas Mutter.
Hätte es in Lisas Kita, wie inzwischen in vielen anderen an der Tagesordnung, klare Regeln gegeben, wäre der Familie all das wahrscheinlich erspart geblieben – wie auch den vielen anderen Kindern und Familien, die bei „Zartbitter“ Hilfe suchen.
Immerhin 40 Prozent der Beratungsanfragen beziehen sich auf sexuell übergriffiges Verhalten von Kindern.
Ist das noch normal? So erkennen Sie Übergriffe
Kindliche Sexualität: Ab drei Jahren interessieren sich Kinder auch für das andere Geschlecht, das sie gerne erforschen. Sie beginnen, andere Kinder in sexuelle Handlungen einzubeziehen – aus Neugierde, nicht aus Begehren. Dass dabei schöne Gefühle entstehen, stärkt ihr Vertrauen in ihre Wahrnehmung und ihr Körpergefühl.
Doktorspiele gehören zur normalen kindlichen Entwicklung ab dem dritten Lebensjahr. Die Kinder ziehen sich nackt aus und untersuchen sich gegenseitig von Kopf bis Fuß. Doktorspiele sollten im gegenseitigen Einvernehmen und gleichberechtigt stattfinden, zwischen Kindern gleichen Alters mit maximal zwei Jahren Unterschied. Die Initiative sollte nicht nur von einem Kind ausgehen, und kein Kind sollte sich unterordnen.
Regeln für Doktorspiele: Vielen Eltern und Pädagogen ist es peinlich, Zeuge von Doktorspielen oder anderen sexuellen Handlungen zu werden, doch wegschauen hilft genauso wenig wie dramatisieren. Wichtig ist die Vermittlung von Regeln, damit Kinder ihre Grenzen vertreten und die der anderen achten lernen:
+ Jedes Kind bestimmt selbst, mit wem er Doktor spielen möchte
+ Mädchen und Jungen streicheln und untersuchen einander nur so viel, wie es für sie selber und die anderen Kinder schön ist
+ Kein Kind tut einem anderen weh, steckt ihm etwas in den Po, die Nase, das Ohr oder in die Genitalien
+ Ältere Kinder, Jugendliche und Erwachsene haben bei Doktorspielen nichts zu suchen
+ Hilfe holen ist kein Petzen!
Sexuelle Übergriffe sind Handlungen, die wiederholt und massiv die Grenzen anderer Kinder verletzen, wenn etwa ein Kind ein anderes mit Gewalt zu sexuellen Handlungen überredet oder zwingt; wenn ein Kind an und mit mehr als zwei Jahre jüngeren Kindern sexuelle Handlungen ausübt oder wenn ein Kind andere Kinder wiederholt und absichtlich an den Genitalien verletzt. Häufig wird dabei ein Machtgefälle zwischen den beteiligten Kindern ausgenutzt. Das betroffene Kind ist in der Situation nicht in der Lage, seine Ablehnung durchzusetzen.
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