Arbeitsmarkt im WandelWo Bewerber heute mehr Macht haben als Unternehmen
- In einigen Branchen haben die Arbeitnehmer heute mehr Einfluss als die Unternehmen
- Sie können bei der Jobauswahl Bedingungen stellen und werden gut bezahlt
- Zwei Experten aus NRW darüber, welche Branchen betroffen sind – und wie die Arbeitgeber Bewerber locken
Köln – Das Machtgefüge auf dem Arbeitsmarkt war lange klar geregelt: Eine mehr oder wenige große Anzahl an Bewerbern stellt sich bei einem Unternehmen vor, das sich daraufhin ihren Mitarbeiter aussuchen kann.
In einigen Branchen stimmt das so allerdings längst nicht mehr. Karsten Berge, Chef der auf Digitalberufe spezialisierten Personalberatung Nelex, sitzt an einem sonnigen Vormittag in seinem Büro im Kranhaus Nummer eins, Rheinauhafen, und erzählt von einem Berufsbild, in dem sich die Regeln umkehren.
Nicht genügend Arbeitskräfte
„Der Markt hat sich gedreht“, sagt er. „In der IT können sich die Arbeitnehmer aussuchen, welchen Job sie annehmen.“ Viele Firmen investierten in Digitalisierung, es kämen aber nicht genügend Arbeitskräfte nach, um die offenen Stellen zu besetzen. Besonders betroffene Branchen sind zum Beispiel Cyber-Sicherheit, oder Blockchain- und SAP-Spezialisten.
„Wir haben heute einen Bewerbermarkt“, bestätigt auch Ruth Werhahn, Personalchefin und Mitglied des Vorstands beim Tüv-Rheinland. Vor etwa fünf bis sieben Jahren habe dieser Trend begonnen – seitdem verschärfe er sich stetig. Nicht nur IT-ler – auch Ingenieure und Ärzte würden dringend gesucht. „Früher fragten die Bewerber, was sie für das Unternehmen tun können“, sagt sie. „Heute fragen sie: Was könnt ihr für mich tun?“
Bewerber suchen Sinn
Für den international agierenden Tüv Rheinland sei der deutsche Arbeitsmarkt dabei im Vergleich einer der härtesten. „Aber wir haben starke Argumente, die für uns sprechen: Wir haben einen gesellschaftlichen Auftrag. Wir sorgen nachhaltig für sichere Technik.“ In Zeiten, in denen die Arbeitnehmer immer mehr nach Sinn in ihrer Arbeit suchten, könne das den Ausschlag geben.
Eine entscheidende Rolle spielt aber immer noch auch ein harter Faktor: das Geld. Die Knappheit in manchen Branchen hat Folgen: Berge sagt, in der IT hätten sich die Gehälter bei SAP- und Cloud-basierten Beschäftigungen „exorbitant verändert“. Teils betrügen die Steigerungen zehn bis 15 Prozent im Jahr. Erfahrene Fachkräfte verdienten gerne zwischen 80.000 und 100.000 Euro.
Risikobereitschaft ist gestiegen
Die Arbeitnehmer von heute wechselten außerdem häufiger ihre Arbeitsstelle, sagt Berge. Ihre Risikobereitschaft sei gestiegen. Sie arbeiteten mehr im Home Office und verbrächten längst nicht mehr standardmäßig fünf Tage im Büro. Sie verlangen vom Arbeitgeber, technisch auf dem neusten Stand zu sein. Werhahn sagt, die Bedeutung einer Work-Life-Balance habe zugenommen. Das sei ein gesellschaftliches Phänomen dieser Generation: Während früher der eigene Beruf zentral fürs Selbstbild gewesen sei, stelle er heute nur noch ein Thema von vielen bei der Sinnsuche dar.
Personalberater wie Personalchefin reagieren auf die technischen und personellen Veränderungen des Markts mit ihren ganz eigenen Maßnahmen. Nelex nutzt zwei Technologien, die mithilfe künstlicher Intelligenz das Internet nach geeigneten Profilen absuchen; zum Beispiel über Plattformen wie Linkedin und Facebook.
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Der Tüv Rheinland hingegen arbeitet nach dem Prinzip „Mitarbeiter werben Mitarbeiter“, um passende Kandidaten zu finden. Die Kollegen sprechen Empfehlungen für geeignete Arbeitnehmer aus – werden diese angestellt, bekommen sie eine Prämie. Das Unternehmen bekommt dadurch eine Vorauswahl und die Arbeitnehmer haben Vertrauen in ihre neue Arbeitsstelle. Im vergangenen Jahr hat der Tüv Rheinland so 100 Industrie-Ingenieure in Deutschland angestellt. „Das ist eine der effektivsten Rekrutierungsmaßnahmen, die wir haben“, sagt Werhahn. Und sie glaubt, dass der Wettbewerb zunehmen wird.