AboAbonnieren

Risiken der ArbeitsweltWie abhängig wir von Computern sind

Lesezeit 9 Minuten

Menschen versagen leicht, wenn ihre Computer sie im Stich lassen. Unsere wachsende Abhängigkeit von Technik kann viel Geld kosten – und Menschenleben.

Zwei Sekunden vor dem Aufprall fällt den Piloten auf: Die Boeing 777 verliert zu schnell an Höhe und Geschwindigkeit, kurz vor der Landung in San Francisco. Zu spät! Der Asiana Flug 214 endet am 6. Juni 2013 in einer Katastrophe. Das Fahrwerk der Maschine donnert gegen die Pistenkante auf der Wasserseite; das Heck bricht ab, der Rumpf rutscht über die Landebahn, Feuer bricht aus. Drei Passagiere sterben, 181 werden verletzt.

Warum kam es zu dem Desaster? Am Unglückstag stand den Piloten das Instrumenten-Landesystem nicht zur Verfügung, weil in San Francisco Wartungsarbeiten liefen. Die Crew war gezwungen, ihre Maschine auf Sicht zu fliegen und zu landen. Dabei kam es zu einem verhängnisvollen Irrtum: Kapitän Lee Kang Kuk glaubte, die automatische Schubregelung würde dafür sorgen, dass die Boeing ihre Geschwindigkeit hält.

Doch das System war abgeschaltet! Vor diesem Hintergrund warnte die amerikanische Luftaufsichtsbehörde FAA laut „Spiegel“: „Piloten verlassen sich zu stark auf die Technik. So verlernen sie das fliegen – und sind im Notfall überfordert.“

Nutzen und Schaden in der vernetzten Welt

Willkommen in der Digitalen Ambivalenz: „Je perfekter die Automatisierung unserer Welt wird, desto größer sind die Gefahren, wenn die Technik plötzlich ausfällt“, sagt Wolfram von Rotberg, IT-Experte im Netzwerk culture2business. Vertraut der Mensch zu sehr auf Computer, ist er schnell überfordert, wenn ein automatisierter Prozess aus dem Ruder läuft. „Wir versagen, weil wir uns an das scheinbar mühelose Funktionieren der Automaten gewöhnt haben“, so von Rotberg.

Ein Ausfallen der Systeme sei nicht vorgesehen, „denn wir haben keine Pläne mehr für ein aktives Handeln, um Krisensituationen zu bewältigen.“ Im Alltag geht das schon los, wenn der Akku vom Smartphone leer ist.

Dieses Phänomen wird in der Luftfahrt unter dem Stichwort „automation dependency“ diskutiert, der Abhängigkeit von automatisierten Systemen. Eine Abhängigkeit, die inzwischen immer weiter um sich greift: „Big Brother wandelt sich zu Big Mother, die uns umsorgt und für uns komplexe Entscheidungen fällt. (…) Wir werden bemuttert von einem Überwachungsapparat“, stellt Max Celko in einem Aufsatz fest. Der Titel: „Hyperlocality: Die Neuschöpfung der Wirklichkeit“.

Die Welten verschmelzen miteinander

Der Begriff „Hyperlocality“ bezeichnet „den Zustand, in dem alle Geräte und Objekte vernetzt und örtlich lokalisierbar sind – den Moment also, wo die physische Welt und die virtuelle Welt miteinander verschmelzen und wir ständig und von überall her auf ihre Ebenen zugreifen“. Der Hintergrund: „Schon in naher Zukunft wird ein Großteil der Dinge, die uns umgeben, mit RFID- und GPS-fähigen Computerchips versehen sein und selbständig miteinander kommunizieren können“, so Celko.

RFID steht für „Radio Frequency Identification“ und bedeutet „Identifizierung durch elektromagnetische Wellen“. Ein RFID-System besteht aus einem Sender (Transponder) und einem Empfänger, über den der Ort des Senders lokalisierbar ist. Auf diese Weise kann zum Beispiel der Weg eines Pakets mit RFID-Chip verfolgt werden, ohne dass es zu einem physischen Kontakt kommt.

Diese Technologie wirft große Fragen auf, mit denen sich Katherine Albrecht schon lange Zeit beschäftigt. In den USA gründete sie 1999 die Verbraucherschutzorganisation CASPIAN (Consumers Against Supermarket Privacy Invasion and Numbering), die sich unter anderem kritisch mit RFID auseinandersetzt. Mit Liz McIntyre hat Albrecht das Buch „SPYCHIPS“ geschrieben. Da heißt es zum Beispiel: „In einer zukünftigen Welt, die mit RFID-Schnüffelchips durchwoben ist, können Karten in Ihrer Brieftasche Sie ‚verraten‘, wenn Sie ein Einkaufszentrum, einen Supermarkt oder einen Gemüseladen betreten, und sie teilen dann dem Betrieb nicht nur Ihre Anwesenheit, sondern auch Ihre Kaufkraft mit.“

Es könnten überall Lesegeräte versteckt sein, in Wänden, Regalen, Fußböden und Türen. Diese Geräte würden alle RFID-Chips scannen, die wir mit uns tragen, etwa in der Kleidung. So ließen sich unser Alter, Geschlecht und persönliche Vorlieben bestimmen. „Da Schnüffelchip-Informationen auch durch die Kleidung dringen“, so Albrecht und McIntyre, „ könnte man auch einen Blick auf die Farbe und Größe Ihrer Unterwäsche werfen.“

Dazu lautet das Stichwort: „Internet der Dinge“, auf Englisch „Internet of Things“ (IoT). Der Datenaustausch findet direkt zwischen den „Dingen“ statt, die Schnittstelle „Mensch“ fällt weg. Die erste Stufe war erreicht, als sich Computer vernetzten, danach wurden Smartphones internetfähig. Jetzt folgen intelligente Kühlschränke oder Thermostate sowie smarte Stromzähler – bis hin zu Autos, die eines Tages selbst fahren. Das Unternehmen Ericsson schätzt: 50 Milliarden Geräte werden 2050 online vernetzt sein.

Nächste Seite: „Intelligente Geräte sollen denken lernen“

„Intelligente Geräte sollen denken lernen“

Auch das Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (Fraunhofer IML) hat eine Vision, wie das „Internet der Dinge“ aussehen wird. Der große Aufschwung im E-Commerce hat gewaltige Waren- und Datenströme ausgelöst, weshalb ein „zukunftsweisendes Logistiksystem“ notwendig ist. „Intelligente Geräte sollen denken lernen und Waren ihren Weg zum Ziel selbst organisieren“, schreiben die Wissenschaftler auf ihrer Website.

Ob Behälter, Palette oder Paket – alle Objekte im Logistikprozess werden mit digitalen Speichern ausgerüstet. Auf diese Weise bekommen sie Informationen zu Zielen und Prioritäten. Das versetzt sie in die Lage, vor Ort einfache Entscheidungen selbstständig zu treffen. Von „Industrie 4.0“ ist in den Medien die Rede.

Piloten scheitern beim Landeanflug, weil sie auf Sicht fliegen – und ihnen kein Computer die Arbeit abnimmt. Die „automation dependency“ ist ein weiteres Beispiel Digitaler Ambivalenz, die moderne Gesellschaften prägt: Die „Arabellion“ bricht dank Facebook aus, die Piraten proben Basisdemokratie im Internet.

Zugleich kontrolliert die NSA die digitale Kommunikation weltweit, und die türkische Polizei jagt Oppositionelle, diee „Verdächtiges“ gepostet haben. Tausende verbinden sich 2013 in sozialen Netzwerken, um den Fluten der Elbe zu trotzen. Und ein Jahr zuvor ruft ein Jugendlicher via Facebook zum Lynchmord auf. Weltweit und gleichzeitig erlebt man demokratischen Aufbruch und totale Überwachung, Solidarität und Cyber-Mobbing, Autonomie und digitale Kontrolle.

Der Journalist und Diplom-Volkswirt Ingo Leipner hat zusammen mit Gerald Lembke ein Buch geschrieben, das diese Ambivalenz in vielen Facetten beleuchtet: „Zum Frühstück gibt´s Apps. Der tägliche Kampf mit der Digitalen Ambivalenz“, ab Oktober 2014 bei Springer Spektrum erhältlich.

Doch auch erste Schattenseiten der „schönen neuen Welt“ sind zu erkennen: Die US-Sicherheitsfirma Proofpoint berichtet im Januar 2014, dass es den „ersten nachweisbaren IoT-basierten Cyberangriff“ gegeben hat. Bei ihm seien handelsübliche „intelligente“ Haushaltsgeräte eingesetzt worden, um weltweit 750.000 Phishing- und Spam-Mails zu verschicken.

Dazu hatten Kriminelle ein roboterartiges Botnet aus mehr als 100.000 Alltagsgegenständen gebildet. Darunter: „Heimnetzwerk-Router, vernetzte Multimedia-Center, Fernseher und mindestens ein Kühlschrank“, so das Unternehmen. Weiter heißt es: „Die bereits erwähnten, mit dem Internet verbundenen Geräte sind in der Regel schlecht geschützt. Sie bieten dadurch eine Umgebung mit zahlreichen leichten, lohnenswerten Zielen, die einfacher zu infizieren und zu steuern sind als PCs, Laptops oder Tablets.“

Nächste Seite: Massenkarambolage durch gehackte Bordcomputer

Massenkarambolage durch gehackte Bordcomputer

Und IT-Experte von Rotberg fragt sich: „Vielleicht erleben wir in ein paar Jahren eine Massenkarambolage von sich selbst steuernden Autos, weil ihre Bordcomputer gehackt worden sind, und wir als Autofahrer das richtige Reagieren verlernt haben.“ Ein weiterer Fall Digitaler Ambivalenz, die von Rotberg auch schon an seinem alten Arbeitsplatz erlebt hat. Er war IT-Leiter bei einer großen Supermarktkette – und plötzlich rief eine Filiale an: „Die Kassen stehen still. Wir können nicht mehr kassieren. “ Alle Kunden mussten den Supermarkt verlassen, die Rollläden gingen runter, der Umsatz mehrerer Stunden brach weg.

„Wir haben die Kassen aller Filialen aus der Zentrale gesteuert“, berichtet von Rotberg. „Aus Versehen hatte ein Mitarbeiter einen zentralen Datensatz zur Berechnung der Mehrwertsteuer gelöscht.“ Und ohne diesen Datensatz verweigerte die Kasse ihren Dienst. „Ein Fehler, der noch nie aufgetreten war“, so der IT-Experte. Er erinnert sich, wie ein Kollege mit „Panik in den Augen“ in eine Sitzung stürzte: „Wolfram! Eine Filiale ist lahmgelegt!“.

Das Netzwerk culture2business setzt sich zum Ziel, gesellschaftlichen Wandel zu erkennen und in die Wirtschaft zu tragen. Die Partnerinnen und Partner wollen einen Wechsel gestalten, der zu einer zukunftsfähigen Kultur in Unternehmen führt. Die Stichworte lauten: Mehr Kooperation und weniger Konkurrenz. Mehr Gemeinwohl und weniger Egoismus. Mehr Ganzheitlichkeit und weniger Profitmaximierung.

Das Netzwerk culture²business unterstützt Unternehmen, die eine ganzheitlich-zukunftsorientierte Kultur aufbauen wollen, um im Wettbewerb durch engagierte Mitarbeiter zu bestehen. Daher vereint das Netzwerk Kompetenz aus unterschiedlichen Gebieten: Die Partnerinnen und Partner sind Unternehmensberater, Systemische Coaches, Trainer, Wissenschaftler, ein Journalist, ein IT-Spezialist und ein Experte für Bildung im Internet.

Ihr Netzwerk wurde inzwischen als Fachgruppe „Unternehmenskultur und Kommunikation“ in die „Offensive Mittelstand“ aufgenommen, die vom „Bundesministerium für Arbeit und Soziales“ gefördert wird. Das Netzwerk will für Unternehmen ein fundiertes Beratungs- und Informationsangebot entwickeln: Analysen, Beratungen, Webinare, Vorträge und Trainings. Kontakt: Netzwerk culture²business, Sabine Gilliar, Tel. 0157/797 090 21, E-Mail: sabine@gilliarconsulting.de

Das sei bereits „Stress pur in der IT-Welt 1.0“ gewesen - das „Internet der Dinge“ werde aber Menschen vor völlig neue Herausforderungen stellen: „Ein geschärftes Bewusstsein für Mensch und Technik“ sei dringend notwendig, um den Menschen nicht zum Spielball der Computer werden zu lassen. Reine Notfall-Szenarien reichten nicht aus, besonders die Kommunikation im Krisenfall muss geübt werden.

„Wir brauchen trotz der Katastrophe eine gute Atmosphäre“, so von Rotberg, Vertrauen und Wertschätzung seien wichtige Faktoren. Es sollte auf keinen Fall passieren, dass ein aufgeschreckter Geschäftsführer den Mitarbeitern im Genick sitzt. Das gefährde die Lösung des Problems: „Da müssen Sie in Ruhe am Tisch sitzen und ganz brutal nachdenken.“ Eine offene Gesprächskultur im Team sei nötig, die auch unter Druck ungewöhnliche Gedanken zulässt. Und alle müssen genau wissen, wovon die Rede ist, „bis ins exakte Wording hinein“, wie von Rotberg sagt.

„Big Mother“ kann den Dienst verweigern

Hinzu sollte eine „hohe Methodenkompetenz für Fehleranalysen“ kommen, wobei zu viel Fachsprache schadet: „Experten schmecken und riechen zwar die ‚Unified Modeling Language‘, kurz UML“, erklärt von Rotberg, „aber die betroffenen Sachbearbeiter kommen damit nicht zurecht.“ UML beschreibe zwar sehr präzise die Abläufe von Prozessen, „das geschieht aber auf einem extrem hohen Abstraktionsniveau“, so der IT-Experte. Daher sind zum Beispiel Visualisierungen gefragt: „IT-Prozesse lassen sich auch darstellen, indem Sie farbige Karten über einen Tisch schieben.“

Diese Erfahrungen zeigen: Verweigert „Big Mother“ ihren Dienst, geraten Menschen in komplexe Situationen - bis hin zum totalen Kontrollverlust. Der katastrophale Asiana Flug 214 beweist, wie tödlich die Konsequenzen sein können.

Verlernt der Mensch, ohne Maschinen richtig zu handeln? Das fragt sich von Rotberg und überlegt: Was passiert in einem selbst fahrenden Auto, wenn Kollege Computer sich abmeldet? Etwa mit den Worten: „Gefahr durch Glatteis, bitte übernehmen Sie!“ Und was geschieht, wenn der Bordrechner den Geist aufgibt - ganz ohne Ansage?

Wie Sie konzentrierter am PC arbeiten, verrät die Bildergalerie: