Mitunter wirkt Deutschlands Wohnungsmarkt wie ein einziger Schlamassel – dabei geht es auch anders, wie ein Blick ins Nachbarland zeigt.
Lebenswert bauenWas Wien deutschen Großstädten voraus hat
Die Suche nach der Zukunft des Wohnens beginnt in der Vergangenheit: Über einen Kilometer zieht sich die durchgehende Fassade des Karl-Marx-Hofes schnurgerade durch den 19. Wiener Bezirk. Skulpturen zieren sie, die rote Wandfarbe schimmert in der Sonne, gewaltige Torbögen führen in den begrünten Innenhof der knapp 100 Jahre alten Wohnanlage. Als sogenannter Gemeindebau ist sie bis heute in der Hand der Stadt – und sie steht für eine Wohnraumpolitik, die heute weltweit ihresgleichen sucht. Dabei ist Österreichs Hauptstadt eigentlich für andere Attraktionen bekannt: Da ist die prachtvolle Hofburg, das Schloss Schönbrunn, zahllose Museen und die Donau, die sich, Badestellen inklusive, durch die Stadt schlängelt. Es überrascht kaum, dass der renommierte „Economist“ Wien 2023 wieder einmal zur lebenswertesten Stadt der Welt erklärt hat.
„Die hohe Lebensqualität in Wien ist eng mit dem sozialen Wohnbau verbunden“, sagt allerdings Wiens Vizebürgermeisterin Kathrin Gaál. Als Stadträtin für Wohnen und Wohnbau sorgt die SPÖ-Politikerin dafür, dass die zwei Millionen Wienerinnen und Wiener ein ordentliches Dach über dem Kopf haben. Etwa ein Drittel aller Wohnungen ist auf dem freien Markt, knapp zwei Drittel sind – wie der Karl-Marx-Hof – in der Hand der Stadt oder werden dauerhaft gefördert. Deutschlands Spitzenreiter Hamburg kommt gerade einmal auf 8 Prozent geförderten Wohnraum, wie jüngst eine Studie der Immobilienspezialisten von Colliers zeigte.
Vergleichsweise niedrige Mieten
Gaál ist denn auch mächtig stolz, auf ihre eigenen Leistungen wie auch die ihrer Vorgänger: Die Wohnungspolitik in Wien ist – die NS-Zeit ausgeklammert – seit den 1920er-Jahren fest in der Hand von Sozialisten und Sozialdemokraten. Gaál schwärmt von den vergleichsweise niedrigen Mieten, den leistbaren Wohnungen in quasi allen Bezirken und der Mittelschicht, die in Wien oft ebenso in städtischen Wohnungen wohnt wie Ärmere. „Das Besondere an Wien ist, dass man an der Adresse eines Menschen nicht erkennt, wie viel jemand verdient“, sagt die Politikerin.
Eine Adresse im Karl-Marx-Hof ist zumindest eine geschichtsträchtige: Die Anlage war nicht der erste Gemeindebau, ist aber bis heute der monumentalste. Mehrere Fußballfelder könnten im begrünten Innenhof Platz finden. Umgeben von fünfstöckigen Gebäudetrakten wirkt der mitunter wie das Innere einer Burg – kurz vor der Besetzung Österreichs durch die Nazis wurde das Arbeiterquartier tatsächlich einmal belagert und mit Kanonen beschossen. Doch vor allem bot die Anlage viel Platz: 748 Wohnungen wurden hier 1930 fertiggestellt.
„Damals erlebte Wien einen wirklich akuten Wohnungsmangel“, erzählt Lilli Bauer. Sie leitet einen Verein, der im Karl-Marx-Hof Führungen organisiert und dort das so kleine wie sehenswerte Museum, „Waschsalon“ genannt, betreibt. Das Reich der Habsburger war nach dem Ersten Weltkrieg zusammengebrochen, schildert Bauer, Geflüchtete strömten in die Stadt. Wer überhaupt eine der überteuerten Wohnungen bekam, musste häufiger als anderswo in Europa auf fließend Wasser, Strom und Gas verzichten, von Überbelegung und hygienischen Problemen ganz zu schweigen: „Tuberkulose war damals verbreitet, sie wurde nicht ohne Grund Morbus Viennensis genannt.“
Gemeindebauten waren die Antwort, „eine neue Bauperiode“ versprach Wiens Bürgermeister Karl Seitz 1924: Bis 1932 entstanden in Wien 65?000 neue Wohnungen in Gemeindebauten. Teils waren es größere Anlagen, die freilich nicht an den Karl-Marx-Hof heranreichten, teils eher gewöhnliche Mehrfamilienhäuser waren. An den Gemeindebauten prangende Plaketten erinnern daran, wie das finanziert wurde: mit Steuererhöhungen auf Luxusprodukte und besonders exklusivem Wohnraum.
Die so entstandenen Wohnungen waren bescheiden, Bäder gab es im Regelfall nur auf dem Flur. „Für Arbeiterinnen und Arbeiter war es oftmals die erste eigene, richtige Wohnung“, betont aber Bauer. „Mit 38 bis 48 Quadratmetern waren sie im Karl-Marx-Hof zwar klein, hatten aber einen Wasser- und Stromanschluss und die Miete lag im Schnitt bei 5 bis 10 Prozent eines Durchschnittseinkommens.“ Hinzu komme noch die „unglaubliche“ soziale Infrastruktur, etwa von vornherein eingeplante Bibliotheken, Beratungsstellen, Vereinslokale und Sporteinrichtungen.
Hundert Jahre später gehört der Karl-Marx-Hof immer noch der städtischen, „Wiener Wohnen“ genannten, Gesellschaft. Die Wohnungen sind längst saniert und haben eigene Bäder. „Es passt hier schon alles“, sagt heute einer der Bewohner im Karl-Marx-Hof, bevor er sich eilig ins Treppenhaus flüchtet. Die Führerin der Tour hatte schon gewarnt, dass die heutigen Mieterinnen und Mieter neugieriger Besucher etwas überdrüssig seien. „Sie glauben gar nicht, wie viele angehende Architekten und Stadtplaner aus Deutschland jährlich herkommen“, erzählt auch Bauer später.
Keine Privatisierungswelle
Denn die eigentliche Besonderheit an Wien ist nicht die Geschichte des kommunalen Wohnbaus, sondern dass er überdauert hat. Durch Deutschland etwa ist seit den 1980er-Jahren eine Privatisierungswelle gerollt, gemeinnütziger Wohnraum hat hierzulande ebenso Seltenheitswert wie kommunaler. Wien hat dem Trend widerstanden, eine „goldrichtige“ Entscheidung sei das gewesen, sagt Vizebürgermeisterin Gaál heute. Und weil in Deutschland wie auch im Rest von Europa in vielen Städten die Mieten explodieren, wandern die Blicke von Stadtplanern und Architekten nach Wien, wo das eben nicht der Fall ist.
Wie Wien heute baut, lässt sich in der Seestadt Aspern besichtigen. Entlang eines künstlich angelegten Baggersees entsteht dort gerade ein neues Viertel. Insgesamt 25?000 Menschen sollen hier nach der Fertigstellung im kommenden Jahrzehnt leben. Parkanlagen, soziale Infrastruktur und Firmenansiedlungen sind eingeplant, die ersten Häuser fertiggestellt und bewohnt, ein riesiges Holzhochhaus zeugt vom heute obligatorischen ökologischen Fokus. Doch im Grundsatz ist Wien seiner Devise treu belieben: Auch das neu entstehende Viertel prägt der Dreiklang aus kommunalem, gefördertem und privatem Wohnbau.
Der Gemeindebau indes hat sich verändert, einen Karl-Marx-Hof plant heute niemand mehr. Stattdessen sind die Gemeindebauten meist eher klassische Wohnblöcke, bei denen die Besonderheiten mitunter erst auf den zweiten Blick auffallen: Zum Beispiel haben einige Wohnungen quasi keinen festen Grundriss, weil Trennwände in Leichtbauweise eingezogen wurden – auf dass sie verschoben werden können, etwa wenn Kinder hinzukommen oder ausziehen, erklärt Architekt Bernhard Weinberger im Videocall.
„Der Wohnbau in Wien ist schon etwas, wo man mit Innovationen und neuen Konzepten zwei bis drei Schritte weiter gehen kann als anderswo“, fasst der Inhaber von WUP-Architektur das Bauen in Wien zusammen. Kostengünstig müsse es natürlich sein, deshalb auch die flexible Raumaufteilung, mit der vergleichsweise kleine Wohnungen voll ausgereizt werden könnten. Was ebenfalls geblieben ist, sind die Gemeinschaftsflächen: „Wir planen die von vornerein mit und so hat ein Haus dann einen größeren Raum etwa für Kindergeburtstage oder eine Fahrradwerkstatt“, so Weinberger.
Stadt setzt auf Mitsprache
Dabei, und das ist eine der Wiener Besonderheiten, wird auf Mitsprache gesetzt: Grundsätzlich werden die Aufträge für Gemeindebauten sowieso in Wettbewerben vergeben, Architekten und Bauträger treten dort gemeinsam gegen andere Architekten und Bauträger an. Ebenso vorgeschrieben ist die Beteiligung künftiger Bewohnerinnen und Bewohner sowie der Nachbarschaft, insbesondere wenn es um mögliche Gemeinschaftsflächen geht. Mitunter leiten das Profis an, was man in Deutschland eher nicht kennt. „Nach Ulm haben wir auch Soziologen mitgebracht, da war die Skepsis erst einmal groß“, erzählt der bärtige Architekt und schmunzelt.
Schlussendlich sei die Beteiligung dann aber größer gewesen als typischerweise in Wien, sagt Weinberger aber auch. Das führt zur Frage, warum man sich in Deutschland nicht häufiger an Wien orientiert. Offiziell passiert das durchaus, das Eurocities-Netzwerk etwa, ein Zusammenschluss europäischer Großstädte, hat Wien zum großen Vorbild erkoren. Doch insgesamt halten sich der Staat und die Kommunen aus dem Bauen weitgehend raus. In Deutschland fühlen sie sich im Wesentlichen für Sozialwohnungen zuständig, und auch deren Zahl ist binnen 30 Jahren von vier Millionen auf etwa eine Million gesunken.
In Wien fallen Vizebürgermeisterin Gaál hingegen zahlreiche Maßnahmen ein, mit denen sie und ihre Verwaltung ins Bauen eingreifen: Wien betreibe seit Jahrzehnten aktive Bodenbevorratung, die Stadt verfüge deshalb über drei Millionen Quadratmeter Flächenreserve. Werde neuer Wohnraum gewidmet, müsse dort zu zwei Drittel günstiger, geförderter Wohnraum entstehen. Ein automatisches Auslaufen der Sozialbindung gebe es ebenfalls nicht. Und vor allem wird in Wien weitergebaut, auch wenn die Kosten steigen und höhere Zuschüsse erforderlich werden. „Die beste Preisbremse schaffen wir, indem wir noch mehr geförderte Wohnungen bauen“, ist die Vizebürgermeisterin überzeugt.
Eine Frage des Willens
Insbesondere die Flächenbevorratung ist etwas, was Gaál den Deutschen ans Herz legt – und etwas, das es spannenderweise hierzulande schon gibt: Die bundeseigene Anstalt für Immobilienaufgaben (BImA) etwa sitzt auf 200 Grundstücken, auf denen 70.000 Wohnungen gebaut werden könnten. Längst fordern selbst liberale Ökonomen wie Claus Michelsen, Chefökonom des Pharmaverbands vfa, dieses Potenzial zu aktivieren. Dem Vernehmen nach ziert sich vor allem das zuständige Finanzministerium, gerade einmal 68 Wohnungen hat die BImA 2023 fertiggestellt.
Wie gebaut und gewohnt wird, ist aus Gaáls Sicht denn auch vor allem eine Frage des politischen Willens: „Wir sind der Meinung, dass die Menschen ein Recht darauf haben, gut und leistbar zu wohnen. An diesem politischen Bekenntnis hat sich seit über 100 Jahren nichts geändert“, sagt die Vizebürgermeisterin der lebenswertesten Stadt der Welt.