Covestro-Chef Steilemann„Dass Kunststoffe in Deponien landen, schmerzt sehr“
- Covestro-Vorstandschef Markus Steilemann bringt zur Vermeidung von Plastikmüll ein für Verbraucher wohl revolutionäres neues System ins Spiel.
- Der Leverkusener Manager bezeichnet es als „Aufgabe für die kommenden Jahrzehnte“, Kunststoffabfall aus der Umwelt fernzuhalten.
- Im Interview spricht Steilemann außerdem über Gehaltsverzicht wegen der Corona-Krise und was das mit der Stimmung im Unternehmen macht.
Köln/Leverkusen – Herr Steilemann, Sie haben Covestro mehrere Monate aus dem Homeoffice geführt. Wie funktioniert das bei mehr als 17.000 Angestellten?
Überraschend gut. Auch über digitale Kanäle lassen sich viele Themen diskutieren und Entscheidungen treffen. Wir haben an vielen Stellen sogar die Effizienz gesteigert, weil die Anforderungen an Disziplin und Fokussierung häufig höher sind als bei Präsenzveranstaltungen. Dennoch habe ich den persönlichen Kontakt sehr vermisst.
Was bleibt von der Krise: weniger Dienstreisen, mehr Homeoffice?
Wir sind noch mitten in der Krise, und es geht uns aktuell vor allem darum, diese gut zu überstehen. Aber natürlich überlegen wir, wie die neue Normalität aussehen könnte. Dazu gehört womöglich auch ein neues Reiseverhalten mit anderen Schwerpunkten. Intern könnte es durchaus weniger Dienstreisen geben, der persönliche und direkte Austausch mit Kunden und Partnern bleibt aber nach wie vor wichtig. Wir werden sicher auch eine veränderte Balance zwischen Präsenzzeit im Büro und am Heimarbeitsplatz haben.
Zur Person
Markus Steilemann ist seit Juni 2018 Vorstandsvorsitzender des Leverkusener Kunststoff-Konzerns Covestro. Geboren 1970 in Geilenkirchen, studierte Steilemann Chemie an der RWTH Aachen und schloss mit der Promotion ab. 1999 begann er seine berufliche Karriere bei Bayer. Ab 2008 bekleidete Steilemann Führungspositionen bei Bayer MaterialScience, der Vorgängergesellschaft von Covestro. 2015 wurde Steilemann Mitglied des Vorstandes von Covestro mit Verantwortung für den Bereich Innovation, später als Chief Commercial Officer (CCO).
Seit Juni 2020 ist der Covestro-Chef neuer Präsident von PlasticsEurope, dem Verband der Kunststoffhersteller in Europa. (hge)
Alle Covestro-Angestellten verzichten aktuell auf einen Teil ihres Gehalts, Sie auf 15, andere Mitarbeiter auf sieben Prozent. Wie ist die Stimmung in Ihrem Unternehmen?
Die Idee, über die gleichzeitige Verringerung von Arbeitszeit und Lohn einen solidarischen Beitrag zur Bewältigung der Krise zu leisten, ist Teil eines umfassenden Maßnahmenpakets. Mitarbeiter haben weltweit über alle Hierarchiestufen und je nach Stärke der tragenden Schultern in unterschiedlichem Maße auf Gehalt verzichtet – das ist im gesamten Unternehmen hervorragend angekommen. In Deutschland haben sich mehr als 95 Prozent der leitenden Angestellten freiwillig daran beteiligt. Ich finde, das ist ein starkes Signal.
Zu dem Solidarpaket gehört auch die Halbierung des ursprünglich geplanten Dividendenvorschlags, den Sie in dieser Woche Ihren Aktionären machen werden. Warum wurde die Dividende nicht ganz ausgesetzt in der schwierigen Lage?
Unsere Aktionäre haben uns im Jahr 2019 die Treue gehalten und uns ihr Geld zur Verfügung gestellt. Entsprechend wollen wir ihnen eine aus unserer Sicht angemessene Dividende zahlen und sie so am Erfolg des vergangenen Geschäftsjahres teilhaben lassen. Unsere Investoren haben uns für diesen Weg sehr großes Verständnis entgegengebracht.
Im zweiten Quartal ist der Umsatz um 33 Prozent, der operative Gewinn um 73 Prozent rückläufig. Wie genau hat die Krise Covestro getroffen?
Covestro und die gesamte chemische Industrie wurden mit Wucht getroffen. Wir mussten sehr starke Absatzrückgänge hinnehmen. Besonders stark betrifft das die Automobilindustrie, in schwächeren Ausprägungen auch die Möbel- und die Bauindustrie. Es gab aber auch einige sehr vielversprechende Segmente: die Elektronikindustrie etwa, die wir beispielsweise mit Produkten für Laptopgehäuse, Monitore und Kameras beliefern. Das gleiche gilt für den Medizinsektor, in dem die Absätze im zweiten Quartal um fast 30 Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal gewachsen sind.
Wollen Sie diese Bereiche nun ausbauen, auch vor dem Hintergrund, dass die Erholung der Autoindustrie lange dauern dürfte?
Wir arbeiten permanent daran, den Produktmix weiterzuentwickeln. Der Autosektor bietet uns aber weiter hervorragende Chancen, vor allem vor dem Hintergrund des radikalen Technologiewandels. Wir glauben, stark von der Elektromobilität profitieren zu können, da wir ein wichtiger Anbieter von Batteriegehäusen, Leichtbaukonzepten sowie Displays und anderen Komponenten für den Fahrzeuginnenraum sind. Wir sehen uns für die Zukunft sehr gut gerüstet.
Ziehen Sie die Planungen für den Neubau der Leverkusener Zentrale wie angestrebt durch oder kommt es aufgrund von Sparmaßnahmen nun zu Verzögerungen?
Wir ziehen die Pläne durch und erwarten, im vierten Quartal die ersten Mitarbeiter in dem neuen Campus-Gebäude begrüßen zu können.
Sie haben im vergangenen Jahr eine Strategie zur Kreislaufwirtschaft gestartet. Welchen Stellenwert nimmt sie im Unternehmen ein?
Die Kreislaufwirtschaft ist unser Leitprinzip, dem wir unsere gesamte Strategie unterordnen.
Heißt das auch: Alles, was sich nicht recyceln lässt, werden Sie künftig nicht mehr produzieren?
Grundsätzlich lässt sich alles recyceln, das ist ein wichtiger Punkt. Es wird zu viel mit Annahmen gearbeitet, was sich recyceln lässt und was nicht. Dabei scheuen sich manche vor Lösungen, die sehr sinnvoll sind, insbesondere dem chemischen Recycling von Kunststoffen. Wir werden insofern weiterhin unsere Materialien produzieren, denn diese haben einen positiven Gesamteffekt auf die Umwelt. Gleichzeitig arbeiten wir permanent daran, dem Ziel, diese in einen Kreislauf zu führen, so schnell wie möglich nah zu kommen. Das ist ein großes Unterfangen, dem wir uns mit Verve verschrieben haben.
Die Realität ist aber, dass Ihre Produkte in der Umwelt oder im besten Fall auf Mülldeponien landen und verbrannt werden. Das meiste wird nicht recycelt.
Und das schmerzt sehr. Ich glaube, dass mit den verfügbaren Technologien heute keine Kunststoffe mehr in Deponien landen müssten. Im Prinzip ist es möglich, den Rohstoffkreislauf zu schließen. Wir als Hersteller können nur unseren Beitrag leisten, der darin besteht, auf Rohstoffe zurückzugreifen, die kreislaufbasiert entstanden sind, und Produkte in den Markt zu bringen, die wieder in den Kreislauf zurückgeführt werden können.
Wann ist es soweit, dass der Großteil des Kunststoffs nicht mehr in die Umwelt gelangt, was ist Ihre Vision?
Das ist eine Aufgabe für die kommenden Jahrzehnte. Aus dem Nichts muss eine langfristig angelegte Lieferkette für nachhaltige Rohstoffe aufgebaut werden. Wir müssen Wege finden, an die für Konsumenten nicht mehr attraktiven, ausgemusterten Produkte heranzukommen. Das ist vor allem wegen des Konsumentenverhaltens eine Herausforderung. Ganz grundsätzlich gilt: Wir haben kein Kunststoffproblem, sondern ein Abfallmanagementproblem. Das eigentliche Problem ist, wie der Mensch derzeit prinzipiell mit Abfall umgeht. Der Kunststoff ist nur der Überbringer der schlechten Nachricht, der uns das Problem jeden Tag vor Augen führt. Deshalb geraten Kunststoffe in Misskredit, obwohl sie aus meiner Sicht die nachhaltigsten Materialien sind, die wir für ein modernes Leben haben können.
Was schlagen Sie vor: ein Pfandsystem für Kunststoffe zum Beispiel?
Genau das ist eine Frage, die wir nicht alleine lösen können. Da braucht es viel Forschung aus anderen Bereichen. Aber natürlich gibt es Ideen. Ein Pfandsystem könnte eine Lösung sein. Ich kann mir gut vorstellen, dass Verbrauchern Kunststoffprodukte gar nicht mehr gehören. Sobald der Konsument keine Verwendung mehr für ein Produkt, zum Beispiel ein Elektrogerät, hat, kehrt es zum Hersteller zurück. Und der speist es wieder in den Kreislauf ein. Wir brauchen aber vor allem eine Politik, die nicht auf Verbote setzt, sondern breiten Spielraum lässt. Etwa für den Ausbau des chemischen Recyclings, das auch gesetzlich anerkannt werden sollte. Denn mit mechanischen Verfahren allein werden wir niemals befriedigende Recyclingquoten erreichen. Neben Technologieoffenheit ist die massive Förderung der erneuerbaren Energien, die wir günstig bereitgestellt bekommen müssen, ein zentraler Punkt, um eine nachhaltige und umweltfreundliche Kreislaufwirtschaft zu realisieren.
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Sie reden viel über Nachhaltigkeit und Umweltschutz. Gefällt es Ihnen, dass diese grünen Ideen zu einer Art Leitprinzip vieler politischer Debatten geworden sind?
Das geht absolut in die richtige Richtung. Es ist offensichtlich, dass wir den linearen Verbrauch von Ressourcen nicht so weiter betreiben können. Damit entziehen wir nicht nur heutigen, sondern auch zukünftigen Generationen die Autarkie, über ihren Lebensstil entscheiden zu können. Kunststoffe sind in diesem Kontext die Materialien der Zukunft.
Das Gespräch führte Hendrik Geisler