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Deutschland sucht VerstärkungWie der Fachkräftemangel die Republik in Atem hält

Lesezeit 7 Minuten
Ein Zettel mit der Aufschrift „Aushilfe für Küche/Verkauf gesucht“ hängt an einer Scheibe.

Ein Zettel mit der Aufschrift „Aushilfe für Küche/Verkauf gesucht“ hängt an einer Scheibe. (Symboldbild)

Das Problem Fachkräftemangel wird noch massiver werden. Die Regierung hat ein Konzept auf den Tisch gelegt – wird das ausreichen?

Wer seine Heizung austauschen lassen möchte, einen Kita-Platz für sein Kind benötigt oder eine pflegerische Betreuung für einen Angehörigen sucht, blickt vielerorts in volle Auftragsbücher, in ellenlange Wartelisten und in die Gesichter überarbeiteter Beschäftigter. Das belastet nicht nur potenzielle Kunden und die Angestellten, sondern die Wirtschaft insgesamt.

Der Arbeits- und Fachkräftemangel zieht sich längst quer durch alle Branchen.
Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA)

Laut einer Untersuchung des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) fehlten zwischen Juli 2021 und Juli 2022 bereits 537.923 qualifizierte Arbeitskräfte. Dem IW zufolge ist der Personalmangel bei der Sozialarbeit und der Kinderbetreuung am größten – dicht gefolgt von der Altenpflege und Bauelektrik. Die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) zählt insgesamt 1,8 Millionen offene Stellen.

„Der Arbeits- und Fachkräftemangel zieht sich längst quer durch alle Branchen“, sagte Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter vor einigen Wochen. Dem Fachkräftereport des Deutschen Industrie- und Handelskammertages zufolge befürchtet eine Mehrheit der Unternehmen, dass der wachsende Fachkräftemangel negative Konsequenzen für sie haben wird.

In manchen Branchen ist der Personalmangel so groß, dass viele Beschäftigte ihren Job nicht langfristig ausüben wollen: Wie aus einer Umfrage der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten hervorgeht, kann sich ein Drittel der Befragten keine Zukunft im Gastgewerbe vorstellen. Besonders in der Gastronomie hat die Corona-Krise für eine Verschärfung des Personalmangels gesorgt, weil Beschäftigte die Branche verlassen haben und in andere gewechselt sind.

Martin Rosemann: „Stehen vor entscheidenden Weichenstellungen in der Fachkräfteentwicklung“

Doch der Hauptgrund für den Fachkräftemangel ist der demografische Wandel – und der wird in den nächsten Jahren immer stärker zum Problem werden, weil die Baby-Boomer-Generation in Rente geht. Bis 2035 verliert Deutschland sieben Millionen Arbeitskräfte, prognostiziert das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB). Das ist ein Siebtel des Arbeitsmarktes.

„Wir stehen vor entscheidenden Weichenstellungen in der Fachkräfteentwicklung“, sagt der arbeitsmarktpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Martin Rosemann, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Wir müssen aus eigenem Interesse das gesamte Fachkräftepotenzial im Inland ausschöpfen und Fachkräfte aus dem Ausland anwerben.“

Die Ampelkoalition hat die Lösung des Fachkräftemangels als eines ihrer zentralen Projekte definiert und eine 36-seitige Fachkräftestrategie verfasst. Sie fußt auf mehreren Maßnahmen, die das Arbeitskräftepotenzial ausschöpfen sollen.

So will die Regierung die Ausbildung stärken. Dafür soll die Berufsorientierung frühzeitig und umfassend für alle Schülerinnen und Schüler ermöglicht werden. Das könnte beispielsweise dem Einzelhandel helfen, wo immer weniger neue Ausbildungsverträge abgeschlossen werden.

Ausbildungen werden immer unbeliebter

Seit Jahren sinkt die Zahl junger Menschen, die eine Ausbildung machen: Während noch 2011 etwa 561.000 Ausbildungsverträge geschlossen wurden, waren es 2021 nur rund 466.000, wie aus Daten des Statistischen Bundesamtes hervorgeht. Hinzu kommt, dass die Abbruchquote bei Ausbildungen Studien zufolge zuletzt bei etwa 25 Prozent lag, in der Universität sogar bei 35 Prozent.

Ein noch wirksamerer Hebel ist nach Ansicht von Ökonomen die Erhöhung der Erwerbstätigkeit von Frauen und Müttern. „Politik, Unternehmen und Gesellschaft sollten ihnen dringend die vielen Hürden aus dem Weg räumen, die einer stärkeren und erfolgreicheren Erwerbstätigkeit im Weg stehen“, mahnte DIW-Ökonom Marcel Fratzscher jüngst bei einer Veranstaltung mit dem Familienministerium.

Die Bundesregierung geht von mehr als 800.000 Frauen mit Kindern unter sechs Jahren aus, die ihre Arbeitszeit unter den richtigen Umständen erhöhen würden. Die Bundesregierung will Länder und Kommunen dabei unterstützen, mehr Kita-Plätze zu schaffen. Fratzscher sieht aber nicht nur die Vereinbarkeit von Familie und Beruf als ein Hindernis, sondern auch das steuerliche Ehegattensplitting, von dem insbesondere Paare mit großen Gehaltsunterschieden profitieren, sowie grundsätzlich die Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen.

Debatte um den Renteneintritt

Ein weiteres Ziel der Ampel ist, dass die Beschäftigten länger in Arbeit bleiben. Kanzler Olaf Scholz (SPD) beklagte jüngst, dass zu viele Menschen bereits mit 63 in Rente gehen statt mit 67. Der frühere Renteneintritt kommt für Menschen infrage, die besonders lange in die Rentenversicherung eingezahlt haben.

Die Äußerung von Scholz sorgte insbesondere in der SPD für Wirbel, die die Rente mit 63 in der großen Koalition 2014 durchgesetzt hatte. Es dauerte nicht lange, bis Parteikollege und Arbeitsminister Hubertus Heil sich zu Wort meldete und erklärte, dass es mit ihm eine Anhebung des Renteneintrittsalters nicht geben wird.

Der spätere Renteneintritt ist bei Wahlen kein Gewinnerthema, viele würden es im politischen Berlin am liebsten umschiffen. Doch nach Berechnungen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung gehen immer mehr Menschen in Deutschland früh in Rente. Aus Sicht von Arbeitsmarktexperten ist das ein Problem. „Wenn noch mehr ältere Menschen über 55 Jahre länger arbeiten wollen, aber auch können, könnten wir dem Arbeitskräftemangel zu einem gewissen Teil entgegenwirken“, sagte der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, Daniel Terzenbach, dem RND.

Als Beispiel nannte er Schweden, wo die Erwerbsbeteiligung älterer Menschen über 55 Jahren bei 76,9 Prozent liegt. „Wenn Deutschland sich dem annähert, würden dem Arbeitsmarkt 300.000 bis 600.000 zusätzliche Fachkräfte erhalten bleiben“, betonte er. Die Bedingungen müssten so gestaltet werden, dass die Beschäftigten psychisch und physisch gesund bis zum Renteneintritt arbeiten könnten, mahnt er. Digitalisierung und Automatisierung seien eine Chance. „Es gibt Tätigkeiten, die künftig durch Maschinen und Software übernommen werden können, etwa im Fertigungs- und Helferbereich.“

Eine längere Arbeitszeit wäre für die sozialen Sicherungssysteme ebenfalls hilfreich. Bereits jetzt muss der Bundeshaushalt mit etwa 100 Milliarden Euro 30 Prozent der Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung abdecken. Je mehr Beitragszahler aus dem Arbeitsmarkt fallen, desto weniger Menschen zahlen noch in den Topf ein – das verschärft die Finanzlage.

Zuwanderung von 260.000 Fachkräften nötig

Die Fachkräfteeinwanderung ist aus Sicht von Experten eine zentrale Stellschraube. „Wir brauchen eine jährliche Zuwanderung von 400.000 Menschen, darunter wären 260.000 Arbeitskräfte plus ihre Familien“, beziffert Terzenbach von der Arbeitsagentur den Bedarf. Jüngst stellte die Ampel die Novellierung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes vor, durch das die Koalition die Verwaltungsverfahren und die Anerkennung von Berufsabschlüssen vereinfachen möchte. Der SPD-Politiker Rosemann schlägt darüber hinaus „aktive, kreative Anwerbestrategien“ vor sowie die Förderung von Berufsausbildungen im Ausland und Bildungspartnerschaften mit anderen Ländern.

Wir stehen in Konkurrenz mit anderen Staaten um die klügsten Köpfe der Welt, und an dieser Realität muss sich die Politik orientieren.
Ottilie Klein, CDU-Sozialpolitikerin

Das Konzept wird von der Wirtschaft grundsätzlich begrüßt, doch es gibt bereits Sorgen vor überbordender Bürokratie und Zweifel, ob ein solches Punktesystem überhaupt in Deutschland funktionieren kann. Die Chancenkarte setze voraus, dass Deutschland aus einem breiten Pool von ausländischen Fachkräften frei wählen könne, sagt CDU-Sozialpolitikerin Ottilie Klein. „Wir stehen in Konkurrenz mit anderen Staaten um die klügsten Köpfe der Welt, und an dieser Realität muss sich die Politik orientieren.“ Die Ampel solle die wahren Hürden der Fachkräftezuwanderung angehen. Die Christdemokratin forderte mehr Personal in den Ausländerbehörden und schnellere Visa- und Anerkennungsverfahren.

Die Wirtschaft hält darüber hinaus die schnellere Anerkennung von Berufsqualifikation für wichtig. Aus Sicht der Betriebe sei es erforderlich, „das Arbeiten mit beruflicher Qualifikation zu erleichtern, auch wenn ein ausländischer Abschluss nur teilweise gleichwertig ist“, sagte DIHK-Chef Peter Adrian kürzlich dem RND.

Fachkräfte wandern ab

Das bedeutet auch: Die deutsche Wirtschaft kann es sich nicht leisten, wählerisch zu sein. Deutschland erlebt aktuell nämlich statt ausreichend Zuwanderung die massenhafte Abwanderung von Fachkräften. Im Fachjargon nennt sich das „Brain Drain“ („Abfluss von Intelligenz und Verstand“). Jährlich würden zwischen 750.000 und 900.000 Menschen Deutschland verlassen, beklagt BA-Vorstand Terzenbach. Das liegt seiner Meinung nach vor allem an der Stimmung im Land: „Neben einer Willkommenskultur brauchen wir auch eine Bleibekultur. Dafür braucht es mehr Investitionen in die soziale Integration.“

Doch was ist eigentlich mit den Erwerbsfähigen in Deutschland, die keinen Job haben? Im November zählte die Arbeitsagentur 2,434 Millionen Arbeitslose – die Unionsbundestagsfraktion sieht darin ein großes Potenzial. Es bedürfe einer Arbeitsmarktpolitik, die eine schnelle Rückführung von Arbeitslosen in eine Beschäftigung fördere, heißt es in einem Positionspapier der Fraktion. Dazu gehörten Qualifizierungs- und Eingliederungsmaßnahmen.

CDU und CSU sprechen einen Punkt an, den die Arbeitsagentur ebenso beschäftigt. So seien von den 3,8 Millionen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten im Arbeitslosengeld II fast eine Million langzeitarbeitslos, erklärt Terzenbach. „Mehr als 60 Prozent der Langzeitarbeitslosen haben keine Ausbildung und können deswegen nicht so schnell in den Arbeitsmarkt integriert werden“, sagt er. „Qualifizierung ist deshalb wichtiger denn je.“ Häufig spielten auch persönliche Lebensumstände, wie die Pflege von Angehörigen oder die Betreuung von Kindern, eine Rolle.

Unterstützung bei der Kinderbetreuung wiederum ist aufgrund des Fachkräftemangels nicht einfach zu bekommen.