Köln – Die Engpässe in der Industrie beschäftigen die Wirtschaft schon eine Weile. Nun machen sie sich zunehmend auch im Einzelhandel bemerkbar: Rund 74 Prozent der befragten Händler beklagen laut einer Studie des Münchener Ifo-Instituts derzeit Lieferschwierigkeiten. „Manches Weihnachtsgeschenk wird vielleicht nicht lieferbar sein oder teurer werden“, sagt Klaus Wohlrabe, Leiter der Ifo-Umfragen, am Dienstag.
Für den Handel kommen die Probleme zur Unzeit: Denn nach harten Pandemiemonaten beginnt bald das Weihnachtsgeschäft – und damit die umsatzstärkste Zeit im Jahr. In welchen Branchen sind die Probleme besonders groß? Wird tatsächlich Ware knapp? Ein Überblick.
Was sind die Ursachen?
Die Ursachen der Lieferschwierigkeiten in Industrie und Handel sind vielfältig. „Die Situation ist deshalb so schwierig, weil hier verschiedene Probleme zusammenkommen, die ursächlich nichts miteinander zu tun haben“, sagt Michael Grömling, Konjunkturchef des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln (IW).Ein Grund ist der Mangel an Bauteilen, der derzeit zahlreiche Branchen belastet. Grömling erklärt die Komplexität der Situation am Beispiel der Halbleiter, die unter anderem im Maschinenbau, der Elektroindustrie und im Fahrzeugbau benötigt werden: Hier sei die Nachfrage derzeit sehr groß – nachdem die Automobilindustrie in der Pandemie noch viele Aufträge storniert hatte.
Erschwerend hinzu kamen Brände in Fabriken und eine gewisse „Bunkermentalität“ durch China und die USA, die versuchten, „der heimischen Industrie einen Vorsprung zu verschaffen“, so Grömling. Auch beim Mangel an Holz, das unter anderem in der Bau- und Möbelbranche fehlt, sind die Ursachen vielfältig: Waldbrände, der Bauboom in Ländern wie China, den USA und auch Deutschland. „Außerdem wissen wir, dass Russland Holz zurückhält.“
Aber nicht nur der Mangel an Bauteilen belastet die Wirtschaft: „Die Transportsituation ist noch einmal ein ganz eigenes Problem“, sagt Grömling. Weltweit sind Container knapp – beziehungsweise befinden sich schlicht nicht in den Häfen, wo sie gerade dringend benötigt würden.
Ein Grund dafür ist die Schließung chinesischer Häfen infolge der Pandemie, die die sonst so streng aufeinander abgestimmten Warenströme durcheinanderwarfen. Außerdem fehlt es in der Branche an Personal, da dieses häufig aus besonders corona-getroffenen Ländern kommt. „Es hat uns überrascht, wie anfällig die Lieferketten in der Corona-Pandemie waren.“
Wie ist die Lage im Handel?
Laut Ifo-Umfrage klagen rund drei Viertel aller Einzelhändler über Lieferprobleme. Im Fahrradhandel sind es gar hundert Prozent, bei den Baumärkten 98,9, in der Unterhaltungselektronik 97,4 und bei Möbeln 94,5 Prozent. Auch im Kfz-Handel (88,1 Prozent), bei elektronischen Erzeugnissen und Haushaltsgeräten (81,9 Prozent), Computern und Software (78,3 Prozent) gibt es Probleme. Im Vergleich etwas besser steht der Lebensmitteleinzelhandel mit 46,9 Prozent da.
„Ein großer Bedarf trifft auf Lieferschwierigkeiten – da prallen natürlich zwei Sachen aufeinander“, sagt Hans-Peter Obermark vom Verband des Deutschen Zweiradhandels. „Gerade zu Beginn der Pandemie wurde viel geordert. Auf den erhöhten Bedarf müssen sich die Produzenten erst mal einstellen. Parallel dazu hat es aber Werkschließungen in Ländern gegeben, in denen produziert wird.“ In der Branche fehlt es zum Beispiel an Bremsscheiben, Ketten, Schaltungsteilen. „Zwischendurch wurden sogar Schmierfette und –öle für Ketten und Gangschaltungen knapp“, so Obermark. Er rechnet damit, dass sich die Probleme noch bis weit ins nächste Jahr ziehen.
Steffen Kahnt vom Handelsverband Technik sagt am Dienstag, Elektro-Fachgeschäfte und Elektromärkte seien „gut mit Ware gefüllt und die Handelsunternehmer decken sich weiter mit Ware ein“. Aber: „Verschiedene Hersteller haben signalisiert, dass es beim Nachliefern in den kommenden Monaten zu Engpässen kommen könnte. Insbesondere bei Artikeln rund um die drahtlose Datenübertragung vom Router bis zur Bluetooth-Lautsprecherbox fehlt derzeit der Warendruck der Vorjahre.“ Auch der Handelsverband Textil beklagte kürzlich im Gespräch mit dem Kölner Stadt-Anzeiger die Liefersituation. „Teilweise werden Umsätze nicht gemacht, weil Ware fehlt“, sagte Sprecher Axel Augustin. Noch im vergangenen Jahr hatte sich die Ware der Textilhändler in den Lagern gestapelt, weil sie lockdownbedingt nicht verkauft werden konnte.
Was bedeutet das für das Weihnachtsgeschäft?
„Wir sind alle mit Hochdruck bei den Vorbereitungen“, sagt Peter Achten, Geschäftsführer des Handelsverband NRW. „Aber es lohnt sich sicherlich, sich bei der Geschenksuche früh umzuschauen, weil die Situation etwas angespannter ist als sonst.“ Auch Steffen Kahnt empfiehlt, „Weihnachtsgeschenke nicht auf den letzten Drücker“ zu kaufen. „Denn überdurchschnittlich beliebte Produkte könnten knapp werden.“ Aber beide warnen vor Alarmismus: Alternativprodukte sollte es weiterhin geben und Wunschprodukte mit mehr Wartezeit verfügbar sein.
Und die Industrie?
Es mangelt an allem möglichen: Stahl, Kupfer, Kunststoffen, Holz, Halbleitern. Vor allem Bauindustrie und verarbeitendes Gewerbe sind hart getroffen. In der Automobilbranche führt der Mangel an Halbleitern immer wieder zu Produktionsstopps. Bei zahlreichen Herstellern wie derzeit etwa Audi, aber auch bei Ford in Köln stehen die Bänder still. Nach Branchenschätzungen werden in diesem Jahr durch die Lieferengpässe rund elf Millionen Fahrzeuge weniger verkauft.
Weil die Autobauer und ihre Zulieferer weltweit in der Zeit der coronabedingten Fabrikschließungen 2020 weniger Chips nachgefragt haben, orientierten sich die Anbieter anderweitig und belieferten etwa Hersteller von 5G-Mobilfunktechnik oder Unterhaltungselektronik, deren Nachfrage in der Pandemie deutlich zugelegt hatte.
Dass das Problem der Autobauer aber selbstverschuldet ist, das sieht etwa der Technik-Chef des E-Motorenbauers Marelli, Joachim Fetzer nicht. Das Unternehmen hat gerade in Köln seine Produktion auf dem Werksgelände von Ford hochgefahren und produziert unter anderem für Porsche und Audi. Halbleiter seien nur begrenzt auf Vorrat lagerbar, sagt Fetzer. „Die Oberflächen oxidieren, deshalb macht eine Just-In-Time-Produktion auch vor diesem Hintergrund bislang Sinn.“ Die generelle Empfehlung sei, Halbleiter nicht länger als ein Jahr zu lagern.