Lehren aus der Rana-Plaza-KatastopheBangladesch sagt Sweatshops den Kampf an
- In der Textilindustrie von Bangladesch hat sich seit der Rana-Plaza-Katastrophe viel getan.
- Doch noch immer sind die Löhne für die Näherinnen erschreckend niedrig.
- Viele Bangladescher gehen deshalb im Ausland arbeiten.
Dhaka – Die Luft im sechsten Stock des Fabrikgebäudes ist erfüllt vom Rotorgeräusch der metergroßen Ventilatoren, die in die Außenmauern eingebaut sind. In dieses Brummen mischt sich ständig ein heller klingendes, rasch schneller werdendes und dann abrupt endendes Rattern – das Geräusch Hunderter Nähnadeln an elektrischen Nähmaschinen.
800 Näherinnen auf einer Etage
Dazwischen Stimmengewirr: 800 Näherinnen und Kontrolleure arbeiten auf dieser Etage in der Fabrik des Textilunternehmens Hop Lun Limited hier in der Stadt Gazipur, direkt nördlich von Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch. Insgesamt sind in dem zehnstöckigen Fabrikgebäude mehr als 6100 Menschen beschäftigt, 5000 Frauen und 1100 Männer.
Im hellen Licht von Neonröhren produzieren sie Damenunterwäsche für verschiedene europäische Ketten: Primark, Lidl, H&M und andere. Sechs Tage die Woche, täglich von 8 bis 17 Uhr. Die 23-jährige Tanya arbeitet als Kontrolleurin. Sie überprüft die Qualität der Unterhosen, die ihre Kolleginnen gerade genäht haben. 120 Kleidungsstücke pro Stunde muss Tanya so kontrollieren. Sie mag ihre Arbeit, übersetzt die Unternehmenssprecherin ins Englische.
An diesem Tag besuchen Kontrolleure der staatlichen Behörde für die Überwachung von Fabriken, DIFE, die Fabrik. In deren Schlepptau: Eine Gruppe deutscher Journalisten. Hop Lun ist, kaum verwunderlich, fast ein Modellbetrieb unter den Textilfabriken in Bangladesch. Das Gebäude, vor fünf Jahren errichtet, erfüllt nicht nur alle Sicherheitsanforderungen.
Auch auf die Rechte der Arbeitnehmer achtet Hop Lun geradezu beispielhaft. Und geht darüber hinaus: Das Unternehmen bietet den Mitarbeitern ein kostenloses Mittagessen, hat einen ebenso kostenlosen Betriebskindergarten und Gebetsräume – für Männer und Frauen getrennt. Dass ausgerechnet diese Textilfabrik von DIFE, dem „Department for Inspection of Factories and Establishments“ für die Inspektion in Begleitung der ausländischen Gäste ausgewählt wurde, verfolgt eine klare Absicht: Der Besuch soll untermauern, wie viel sich seit 2013 in der Textilindustrie des Landes zum Guten entwickelt hat.
Rückblende: Vor sechseinhalb Jahren, am 24. April 2013, starben beim Einsturz der achtstöckigen Rana-Plaza-Textilfabrik in Savar, einem westlichen Vorort von Dhaka, mehr als 1130 Menschen. Es stellte sich heraus, dass das Gebäude nie für die Nutzung als Textilfabrik gedacht war und dass der Besitzer sich an keinerlei Sicherheitsregeln für seine Arbeiter gehalten hatte.
Das Unglück löste weltweit Entsetzen und den Ruf nach Veränderungen aus. Die Zustände im Rana Plaza waren beileibe kein Einzelfall. Viele Textilfabriken hatten wegen der unmenschlichen Arbeitsbedingungen den Ruf „sweatshops“ zu sein, „Schwitzbuden“. In der internationalen Textilindustrie schlossen sich mehr als 220 Unternehmen zum „Bangladesch Accord“ zusammen, um die Verhältnisse zu verbessern.
Auch die Regierung des Landes reagierte. Sie stockte die Zahl der DIFE-Distriktbüros landesweit von vier auf 23 auf und erhöhte die Zahl ihrer Inspektoren von 340 auf 575. Ein computergestütztes Kontrollsystem soll den Einfluss der weit verbreiteten Korruption auf das Ergebnis der Kontrollen eindämmen.
Gefragt, ob denn die 26 Inspektoren im Distrikt Gazipur genügt, um alle 1345 Textilfabriken dort effektiv kontrollieren zu können, sagt die stellvertretende DIFE-Generalinspektorin im Distrikt, Shuly Aktar, jedoch kurz und bündig: „Sicherlich nicht. Wir brauchen eigentlich 69 weitere Inspektoren.“
Allerdings habe es vor fünf Jahren nur drei Inspektoren in ihrem Distrikt gegeben, die zudem nur die Hälfte dessen verdienten, was heute möglich ist. Ein DIFE-Inspektor kann im Monat bis zu 34 000 Taka verdienen, umgerechnet etwa 350 Euro.
Gleich, mit wem man in Dhaka über die Textilindustrie des Landes redet, die Botschaft lautet immer: Die Zustände in den Fabriken haben sich sehr zum Positiven gewandelt, wobei dann meist einschränkend hinzugefügt wird, das gelte für die Fabriken, die für den Export produzierten.
Mit Blick auf die Fabriken, die den heimischen Markt beliefern, werden die Antworten schwammiger. Aber auch Sadaf Saaz, Lyrikerin, Frauenrechtlerin und Besitzerin der Textilfabrik Eske Clothing, sagt: „Die Zeit der Sweatshops in Bangladesch ist vorbei.“
Das heißt nicht, dass es keine Probleme mehr gibt, insbesondere für Frauen. Die 50-jährige Saaz kämpft in der Frauenrechtsorganisation Naripokkho zum Beispiel gegen die sexuelle Belästigung von Frauen in der Textilindustrie. Laut Naripokkho wurden 2018 mehr als ein Fünftel aller Frauen in der Textilindustrie am Arbeitsplatz sexuell belästigt.
Aber Saaz betont auch, die Arbeit als Näherin sei eine Chance für die Frauen Bangladeschs – auf ein eigenes Einkommen, auf eine stärkere Beachtung der Rechte von Frauen. „Als wir uns nach dem Rana-Plaza-Unglück hier bei Naripokkho getroffen und mit Textilarbeiterinnen gesprochen haben, um zu überlegen, wie wir reagieren, war das erste, was sie sagten: »Bitte sorgt dafür, dass die ausländischen Händler weiterhin ihre Waren hier kaufen«.“
Tuomo Poutiainen, Landesdirektor der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Bangladesch, weist auf den schwach ausgebildeten Schutz für Arbeitnehmerrechte hin. „Bangladesch ist ein junges Land. Es gibt keine Tradition des sozialen Dialogs zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.“
Es gebe kaum Vertrauen zwischen beiden Seiten. Erst im Januar kam es zu Straßenprotesten wegen der Mindestlöhne. Die Polizei trieb die Demonstranten mit Gewalt auseinander, ein Textilarbeiter starb. Der Mindestlohn liegt in Bangladesch bei 8000 Taka im Monat, umgerechnet 82,50 Euro. Eine gute Näherin kann das Doppelte verdienen.
Öffentliche Proteste werden von der Regierung des Landes unter Premierministerin Hasina Wajed nicht gern gesehen. Journalisten, die anonym bleiben möchten, berichten, dass die Regierung eine Atmosphäre der Angst etabliere.
In den vergangenen Jahren seien Tausende Menschen, die sich kritisch über Regierung geäußert hätten und sei es nur auf Social Media, verschwunden oder wurden von Geheimdienstkommandos getötet.
Textilindustrie ist die wichtigste Branche
Die Textilindustrie ist der wichtigste Wirtschaftszweig von Bangladesch. Er steht für etwa zehn Prozent oder 25 Milliarden US-Dollar des Bruttoinlandsproduktes von 250 Milliarden US-Dollar (2018).
Nach China ist Bangladesch der zweitgrößte Produzent von Textilien weltweit. IIn den 4500 bis 5000 Textilfabriken im Land – 4000 davon exportorientiert – arbeiten 4,5 bis fünf Millionen Bangladescher, davon etwa 70 Prozent Frauen.
Der zweitwichtigste Devisenbringer sind Geldtransfers von Gastarbeitern. Jährlich arbeiten zwischen 225 000 und 280 000 Bangladescher im Ausland, vor allem in arabischen Ländern und Singapur. (ps)
Zugleich gäbe es in der Regierung und unter den reichen Textilfabrikanten jede Menge „Falschspieler“. Das seien Leute, deren Familien gar nicht in Bangladesch lebten, sondern in Kanada oder irgendwo anders im westlichen Ausland. Viele Fabrikbesitzer hätten zwei Pässe. Falls sie Probleme bekämen, würden sie das Land verlassen. Diese Leute gehören zu den reichsten Bangladeschern.
Am anderen Ende der Einkommenspyramide leben viele Bangladescher, die ihr Land gar nicht verlassen wollen, aber trotzdem weg müssen. Leute wie Meena.
Sie lebt mit ihrem Mann und drei Kindern am Stadtrand von Dkaka in einer Wellblechhütte. Meena ist ungefähr 30. Genau weiß sie das nicht.Ihr ältester Sohn ist 18. Das jüngste Kind, ein kleiner Junge, ist zweieinhalb und sitzt auf ihrem Schoß.
Sie hat in einer Textilfabrik in Dhaka gearbeitet, für 8000 Taka im Monat, zehn Stunden pro Tag. „Das war sehr schwere Arbeit.“ Auf Vermittlung der ILO, die Frauen aus dem Slum hilft, im Ausland einen Job zu bekommen, fand Meena einen Arbeitsplatz als Näherin in Mauritius, dem Inselstaat im Indischen Ozean.
Dort kann sie umgerechnet 310 Euro im Monat verdienen. Drei Jahre will sie auf Mauritius bleiben. Um den Flug und die Formalien für die Ausreise bezahlen zu können, hat sie einen Kredit aufgenommen. Während ihrer Abwesenheit kümmern sich ihr Mann und ihre Mutter um ihre Kinder.
Sie träumt davon, sich ein kleines Haus aus Ziegelsteinen bauen zu können, von denen es im Slum bereits einige gibt. Das kostet umgerechnet etwa 10 000 Euro. Fällt ihr es nicht schwer, ihren kleinen Sohn zurückzulassen? „Es gibt keine andere Wahl“, sagt Meena.
Diese Reise fand auf Einladung der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen statt.