Der Kölner Führungskräfte-Coach Sohrab Salimi spricht über Disruption als Dauerzustand, gutes Krisen-Management und den richtigen Umgang mit Verunsicherung.
Kölner Coach„Es macht wenig Sinn, Ängste von Mitarbeitenden zu ignorieren“
In der Wirtschaft wird Disruption zum Dauerzustand, permanente Umbrüche sind also die neue Normalität. Wie müssen sich Führungskräfte verändern, um ihr Unternehmen gut aufzustellen für die Zukunft?
Sohrab Salimi: Zuallererst müssen Führungskräfte für sich selbst klarstellen, dass weder sie noch andere die Zukunft vorhersehen können. Disruption ist im Nachgang immer sehr einfach zu erkennen. In dem Moment, als das iPhone kam, hat keiner von einem iPhone-Moment gesprochen. Stattdessen haben viele Experten, auch bei Nokia oder Microsoft, Apple sogar für das Produkt ausgelacht. Dann sind alle klassischen Telefone weggefallen, alles ging in Richtung Smartphones. Sobald wir anerkannt haben, dass wir die Zukunft nicht vorhersehen können, ergeben sich daraus ganz viele Folgefaktoren.
Zum Beispiel?
Dass wir wesentlich agiler arbeiten – und entsprechend auch führen – müssen.
Was genau ist agile Führung?
Ein wichtiger Aspekt ist, situativ unterschiedlich zu führen. Das ist nicht unbedingt neu. Aber neu ist die Intention, dadurch Entscheidungsprozesse zu beschleunigen. In der Regel versuchen wir das, indem wir Entscheidungen dezentralisieren. Dafür müssen drei Dinge gegeben sein: Die Mitarbeitenden brauchen den Kontext, Stichwort Informationstransparenz. Wir müssen an der Kompetenz unserer Mitarbeitenden arbeiten, damit sie Entscheidungen gut treffen können. Und unsere Mitarbeitenden müssen mutig genug sein, Entscheidungen zu treffen. Für mich ist agile Führung, aus der Rolle eines Entscheiders in die Rolle des Befähigers für Entscheidungen zu wachsen.
Eine Führung, die auf Kollaboration statt auf Hierarchie setzt?
Hierarchie fällt nicht komplett weg. Natürlich entscheiden Führungskräfte auch selbst noch. Die besten, innovativsten Organisationen unserer Zeit sind entgegen der weit verbreiteten Ansicht nicht komplett flach. Trotzdem bekommt das Thema Kollaboration eine ganz andere Gewichtung. Warum? Weil großartige Produkte und Dienstleistungen immer nur im Team entstehen. Und damit dieses Team sich als Team fühlt, muss man ein Umfeld schaffen, in dem sich die Leute auf Augenhöhe begegnen, in dem sie auch mal Fehler machen können, gerade weil wir sehr viel Unsicherheit um uns herum haben. Es ist eine der Kernaufgaben für Führungskräfte, diesen Rahmen für mehr Kollaboration zu geben.
Erleben Sie viele Unternehmen, die das schon tun?
Viele behaupten es, aber in den meisten Fällen sind das Lippenbekenntnisse. Viele Führungskräfte würden auch für sich in Anspruch nehmen, dass es in ihren Teams oder in ihrer Organisation ein hohes Maß an psychologischer Sicherheit gibt. Dagegen sprechen aber sämtliche Studien. Gallup untersucht jedes Jahr in einer Studie, mit welchem Level an Engagement die Menschen zur Arbeit kommen: Über Jahrzehnte und verschiedenste geografische Räume hinweg haben wir 18 bis 20 Prozent der Mitarbeitenden, die voll engagiert sind, ungefähr so viele Mitarbeitende, die nicht engagiert und somit emotional nicht gebunden sind sind, der Rest ist neutral. Es kann für Unternehmen nicht zufriedenstellend sein, so viel Produktivität liegen zu lassen. Um zu echter Augenhöhe, echter Kollaboration und damit echter psychologischer Sicherheit zu kommen, braucht es konkrete Tools und Techniken, die man systematisch anwendet.
Zum Beispiel?
Simple Dinge wie die Erstellung von Regeln der Zusammenarbeit. Wenn ich Workshops mit Führungskräften mache, finde ich es immer wieder erstaunlich, dass die allermeisten trotz guter Ausbildung von diesen Tools und Techniken so gut wie nie etwas gehört haben. Alle kleinen Elemente, die man aufsummiert, führen dazu, dass echte Veränderung stattfindet. Häufig wird in Unternehmen behauptet, man arbeite auf Augenhöhe, aber Entscheidungen werden immer noch hierarchisch getroffen: Die Person, die in der Hierarchie am weitesten oben ist, trifft die Entscheidung, selbst wenn sie nicht zwingend die beste Person ist für die Entscheidung. Meritokratie würde bedeuten, dass die Leute die Entscheidung treffen, die in einem gewissen Themenfeld die meiste Expertise mitbringen. Davon sind die meisten Unternehmen weit entfernt.
In disruptiven Zeiten steigen die Ängste bei Mitarbeitenden. Wie geht man als Führungskraft am besten damit um?
Aus meiner Erfahrung macht es wenig Sinn, Ängste zu ignorieren. Man muss sie direkt adressieren, ob das nun Ängste davor sind, dass man seinen Job verliert, weil man nicht mehr im Homeoffice arbeiten darf oder, dass es keine Gehaltssteigerung gibt trotz Inflation. Wenn der Mitarbeitende sieht, dass die Führungskraft das auch vor Augen hat, ist schon mal ein Teil der Angst weg, nämlich die, wie man seine Angst in Richtung Führungskraft adressiert. Manchmal gibt es dann zwar keine Mittel und Wege, mit dem Problem umzugehen, trotzdem werden beide Seiten ein besseres Gefühl haben. Das allein ist produktivitätsfördernd und beugt neuen Ängsten vor. Ein anderer Weg wäre, die Mitarbeitenden in die Lösungsfindung mit einzubeziehen. Das nimmt die Angst weg, Entscheidungen von oben ausgeliefert zu sein und führt zu Menschen, die sich der Probleme annehmen.
Auch bei Führungskräften gibt es eine Verunsicherung, weil sie merken, dass die Art und Weise, wie sie führen, nicht mehr erfolgreich ist. Wozu führt das?
Viele Unternehmen begegnen dem Zugewinn an Unsicherheit mit mehr von den alten Praktiken, indem wir eben versuchen, noch weiter in die Zukunft vorherzusehen, noch detaillierter Budgets zu planen. Man versucht also, mehr Kontrolle auszuüben, was in aller Regel aber nicht zielführend ist. Man sollte in der Hinsicht bewusst den eigenen Instinkt hinterfragen. Die Alternative wäre das Eingeständnis, dass ich die Zukunft nicht vorhersehen kann und nicht von Tag 1 alles zu 100 Prozent richtig machen werde.
Wofür ist das hilfreich?
Allein das Zugeständnis, dass ich auch als Führungskraft Fehler machen werde, führt häufig dazu, dass man eher gewillt ist, in früheren Zyklen beispielsweise Feedback einzuholen. Die gleichen Prinzipien, die wir im Hinblick auf Produkt- oder Serviceentwicklung an den Tag legen, legen wir dann auch an den Tag im Hinblick auf unsere eigene Weiterentwicklung als Führungskraft. Und dann sind wir schon beim ersten Schritt in Richtung einer Lernkultur für unser Unternehmen. Denn wenn die Führungskraft dieses andere Mindset an den Tag legt, wird sie alle anderen anstecken.
Was ist der Unterschied zwischen Lern- und Fehlerkultur?
Ich spreche lieber von Lern- als von Fehlerkultur. Denn wenn Leute von Fehlerkultur sprechen, sehe ich häufig, dass sie alle Fehler unter den gleichen Teppich kehren. Das führt dazu, dass Dinge, die nicht falsch laufen dürfen, unter dem Aspekt der Fehlerkultur toleriert werden oder Toleranz dafür eingefordert wird. Dagegen bin ich strikt.
Ein Beispiel?
Ein Beispiel aus dem Krankenhaus: Wenn ich eine Blutkonserve anlegen soll, muss ich vorher testen, welche Blutgruppe der Patient hat. Wenn ich das nicht tue, ist das ein Fehler, der nicht toleriert werden darf. Jeder weiß, dass das gemacht werden muss. Aber wenn wir neue Produkte und Dienstleistungen entwickeln und beispielsweise eine Feature-Idee in die Entwicklung bringen und die räsoniert nicht mit dem Kunden, kann man das als Fehler sehen oder als Erkenntnisgewinn und entsprechend auch als Lehre. Diese Kultur fördere ich als Führungskraft, indem ich transparent aufzeige, in welche Fettnäpfchen ich schon getreten bin, indem ich nicht mit dem Finger auf andere Leute zeige oder hart zu ihnen bin. Stattdessen könnte ich vors Team treten und sagen: Spannend! Unter welchen Annahmen habt ihr die Entscheidung getroffen? Welche Fragen sollten wir uns in Zukunft stellen, wenn wir vor einer ähnlichen Entscheidung stehen? Wie sieht das nächste Experiment aus, das ihr machen wollt?
Diversität ist ein großes Thema in der Wirtschaftswelt. Helfen divers aufgestellte Teams in Ihren Augen tatsächlich dabei, disruptive Herausforderungen besser zu meistern?
Das kommt auf die Diversität an. Einfach nur Geschlechter und Menschen mit unterschiedlichen Geografien zu mischen, kann, aber muss nicht zwingend Produktivität und Innovationskraft fördert. Der Aspekt, der Teams in Summe häufig stärker macht, ist, dass Menschen unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben, dementsprechend Problemen aus unterschiedlichen Perspektiven begegnen und deshalb häufig zu unterschiedlichsten Ideen oder Lösungen kommen. Für Führungskräfte sollten die unterschiedlichen Perspektiven der ausschlaggebende Faktor sein für ein Team. Ich muss dabei aber ein Team schaffen, das noch genug Schnittmengen hat, um sich zu vertrauen. Denn wenn ich mit den Leuten nichts gemeinsam habe, fällt es schwer in Kollaboration zu treten. Es ist keine einfache Aufgabe, solche Teams zu kreieren.
Menschlich ist es erst einmal naheliegend, sich am liebsten mit Menschen zu umgeben, die gleich ticken.
Richtig. Aber als Führungskraft muss ich mich da wirklich hinterfragen: Will ich Leute, die nur nicken zu allem, was ich sage oder will ich selbst auch herausgefordert werden? Eine ganz einfache Technik, die ich als Führungskraft nutzen kann: Ich bringe meine Hypothese oder meine Ideen ein ins Team und ergänze am Ende: „Ich könnte auch falsch liegen. Tretet gerne gegen diese Idee, liebes Team.“ Und dann gucke ich mal, was passiert. Wenn ich dann nur Leute habe, die zu allem Ja und Amen sagen, dann müsste ich meinen Recruiting-Prozess definitiv hinterfragen.
Welche in einem erfolgreichen Unternehmen gelebte Praxis würden Sie unbedingt noch empfehlen?
Amazon und mittlerweile viele andere Unternehmen gehen hin und unterscheiden zwischen Typ-1 und Typ2-Entscheidungen. Erstere sind unumkehrbare oder nur schwer umkehrbare Entscheidungen. Wenn ich ein Unternehmen akquiriere, kann ich es in zwei Wochen nicht zurückgeben und mein Geld zurückfordern. Typ-2-Entscheidungen kann ich relativ schnell, relativ kostengünstig widerrufen oder in eine ganz andere Richtung gehen. Bei Typ-1-Entscheidungen geht es Amazon nicht darum, besonders schnell zu sein, sondern die Wahrscheinlichkeit zu steigern, dass eine richtige Entscheidung getroffen wird. Darum werden dort unterschiedlichste Hierarchie-Ebenen manchmal bis hin zum CEO eingebunden. Die Typ-2-Entscheidungen wollen sie so schnell und entsprechend dezentral wie möglich treffen. Wenn Unternehmen hingehen und diese zwei Elemente einführen, sind sie schon ein ganzes Stück besser gewappnet für viele Unsicherheiten in ihrem Umfeld.
Zur Person
Sohrab Salimi ist Gründer und CEO der in Köln sitzenden Scrum Academy GmbH. Er hat über 20 Jahre Berufserfahrung als Trainer für kleine bis sehr große Unternehmen. Sohrab Salimi lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Köln.