Krimi um WirecardDie womöglich größte Klagewelle der deutschen Geschichte
- Nach der Insolvenz von Wirecard rücken die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young (EY) in den Fokus.
- Sie selbst sehen sich als Opfer eines ausgeklügelten Betrugs.
- Auf die Prüfer könnte nun die größte Klagewelle der deutschen Geschichte zurollen.
Köln – Nach der Insolvenz von Wirecard rücken die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young (EY) in den Fokus. Können sie für den Bilanzskandal und damit für die Verluste der Anleger haftbar gemacht werden? Das hoffen viele Investoren, zumal bei Wirecard selbst nach der Insolvenz wohl nichts mehr zu holen ist. Auf EY rollt eine Prozesswelle zu. Kanzleien wie etwa Schirp & Partner und Anlegerschützer wie die Schutzgemeinschaft der Kleinaktionäre haben bereits Klagen eingereicht.
EY wird vorgeworfen, bei der Abschlussprüfung von Wirecard versagt zu haben – vom „Weggucken“ ist die Rede. Dabei geht es um Kernaufgaben eines Prüfers, etwa die Bewertung der Qualität des Kontrollsystems beim Mandanten, das bei Wirecard allen Hinweisen nach katastrophal war. Noch schwerwiegender wäre es, wenn EY bei der Prüfung der Konten des Unternehmens in Asien geschlampt hätte.
EY sieht sich als Opfer eines ausgeklügelten Betrugs. Eine eindeutige Bewertung des Falls steht noch aus. Dennoch ist die ganze Prüferszene grade im Fokus von Politik und Öffentlichkeit.
Bei Wirecard fehlen rund 1,9 Milliarden Euro
Gläubiger und Aktionäre haben unter bestimmten Voraussetzungen das Recht, die normalerweise streng geheimen Abschlussberichte von Wirtschaftsprüfern einzusehen. Das könnte im Fall Wirecard große Bedeutung haben, sagt Wirtschaftsprofessor Kai-Uwe Marten von der Universität Ulm. Seines Wissens nach wäre es das erste Mal, dass dieses Recht angewandt würde. Eingeführt wurde der Paragraf 321a des Handelsgesetzbuches vor 16 Jahren infolge diverser Skandale. „All jene, die Forderungen haben – etwa Banken und Lieferanten, in bestimmten Fällen aber auch Aktionäre – können Einsicht in die Prüfungsberichte der vergangenen drei Jahre beantragen, sobald das Insolvenzverfahren eröffnet ist“, sagte Marten. Bei Aktionären gelte, dass sie ein Prozent des Unternehmens oder Aktien im Wert von mindestens 100 000 Euro halten müssten, um Zugriff auf die Berichte zu erhalten.
Bei Wirecard fehlen rund 1,9 Milliarden Euro, die der Konzern in seiner Jahresbilanz 2019 auf der Habenseite verbuchen wollte. Das Unternehmen hat mittlerweile Insolvenz angemeldet. Sollten Betroffene Einsicht in die Berichte fordern, würde es spannend, sagt Marten.
Erste Gewinne mit Wirecard
Einer der baldigen Kläger ist Wolfgang Sundern (Name geändert). Anfangs hatte er noch Gewinne mit Wirecard-Aktien gemacht. Selbst als die ersten kritischen Berichte der „Financial Times“ Anfang 2019 über den Ticker liefen, glaubte Sundern noch an vorübergehende Probleme oder üble Nachrede, um den Aktienkurs zu drücken. „Die Quote sank ja auch 2019 von 185 auf 100 Euro, da habe ich noch mal zugeschlagen.“ Ein Glücksgriff, bald erholte sich der Kurs wieder und Sundern stieß sein Wirecard-Portfolio mit Gewinn ab.
Und so versuchte der Pensionär es später noch einmal. Jahrelang hatte die renommierte Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY dem Konzern ja positive Testate für seine Bilanzen ausgestellt.
Just in jener Phase tauchten neue Hinweise auf Bilanzmanipulationen auf. Eine Sonderprüfung durch die Wirtschaftsprüfergesellschaft KPMG Ende 2019 nährte die Zweifel. Aktienkäufer Sundern glaubte in jener Phase immer noch an bewusst gestreute Gerüchte. Zumal Wirecard-Chef Markus Braun versuchte, die Gemüter zu beruhigen. Tenor: Alles in Ordnung. Sunderns Vertrauen schwand erst, als im April 2020 eine Horrornachricht den Kurs ins Bodenlose fallen ließ: Zu guter Letzt verweigerten die Prüfer von EY das Testat für die letztjährige Bilanz.
Führende Protagonisten tauchten ab, die Staatsanwaltschaft durchsuchte die Büroräume wegen des Verdachts falsch veröffentlichter Ad-hoc-Mitteilungen durch den Vorstand, um die Talfahrt an der Börse zu stoppen. Schließlich folgte die Insolvenz.
Ex-Wirecard-Chef Markus Braun ist nur auf Kaution auf freiem Fuß. Der Aufenthaltsort des ehemaligen Wirecard-Vorstands Jan Marsalek ist weiterhin unbekannt. Er hatte über seinen Anwalt erklären lassen, sich nicht der Justiz stellen zu wollen. Eine mögliche Einreise in die Philippinen erwies sich als Falschmeldung. Der Untergetauchte wird mit internationalem Haftbefehl gesucht. Ihm wird Marktmanipulation, Bilanzfälschung und Untreue vorgeworfen. Sein Vermögen wird auf einen dreistelligen Millionenbetrag geschätzt.
„Ich habe die Wirecard-Aktie für 50 Euro gekauft“, so Privatinvestor Sundern, „heute ist sie gerade mal um die zwei Euro und ein paar Gequetschte wert.“ Seinen derzeitigen Verlust beziffert der Rentner auf etwa 450 000 Euro. Sundern hat sich dem Sammelverfahren der Anwälte Wolfgang Schirp und Marc Liebscher gegen EY angeschlossen. „Wenn man sich anschaut, was EY bei seinen Testaten alles falsch gemacht hat, steht einem der Mund offen“, meint Schirp. So habe man etwa bei den Jahresabschlüssen zwischen 2016 bis 2018 Treuhandguthaben in Dubai, Singapur und auf den Philippinen in Höhe von mehr als einer Milliarde Euro testiert, „obwohl keine Bestätigungen der kontoführenden Banken vorlagen“.
Bei Ernst & Young wehrt man sich gegen die Vorwürfe. Tenor: Man kann nur die Dinge kontrollieren, die das Unternehmen preisgibt. „Es gibt deutliche Hinweise, dass es sich um einen umfassenden Betrug handelt, an dem mehrere Parteien rund um die Welt und in verschiedenen Institutionen mit gezielter Täuschungsabsicht beteiligt waren“, erklärte EY. Konspirativer Betrug, der darauf abziele, die Investoren und die Öffentlichkeit zu täuschen, gehe oft mit umfangreichen Anstrengungen einher, systematisch und in großem Stil Unterlagen zu fälschen, führen die Wirtschaftsprüfer aus. „Auch mit umfangreich erweiterten Prüfungshandlungen ist es unter Umständen nicht möglich, diese Art von konspirativem Betrug aufzudecken.“
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Aus Sicht der Anwälte rollt auf Ernst & Young eine riesige Klagewelle zu, „die sich zur größten in der deutschen Geschichte auswachsen könnte“. Nach eigenen Angaben vertreten beide Kanzleien inzwischen 7000 bis 10 000 Mandanten in der Causa. „Am Ende kommt ein Schadensvolumen von 1,5 Milliarden Euro auf EY zu“, so Schirp.
Erste Klagen haben die Juristen bereits am Landgericht Stuttgart eingereicht. So sollen die EY-Kontrolleure etwa den Konzernabschluss 2018 abgesegnet haben, obwohl Wirecard den Kassenbestand überhöht dargestellt hatte. In ihrer Argumentation stützen sich die Kläger vor allem auf das Sondergutachten von KMPG. In dem Report, so heißt es in einer Klageschrift, „stellte KPMG Sachverhalte fest, die zwingend darauf schließen lassen“, dass der Bestätigungsvermerk der Kollegen von EY „grob falsch und Angaben ins Blaue hinein enthält, die wesentlich sind für die unrichtige Finanzsituation der Wirecard AG“.
Zum Schuldbeweis zitieren die Kläger aus dem Abschlussbericht der EY-Prüfer im Jahr 2018: Seinerzeit sollen die Kontrolleure quasi einen Persilschein ausgestellt haben. Angesichts der Ertragslage, so das Fazit im EY-Abschlussreport, „vermittelt der beigefügte Konzernlagebericht ein zutreffendes Bild“ von der Unternehmenssituation. Am Ende heißt es: „Wir tragen die alleinige Verantwortung für unsere Prüfungsurteile.“Die Anwälte um Wolfgang Schirp gehen noch einen Schritt weiter. Sie wollen den Staat zur Rechenschaft ziehen. Sie sehen krasse Versäumnisse bei der Finanzaufsicht BaFin.