Sie galten lange als Symbol der Fünfzigerjahre: Servierwagen gehörten damals in jeden halbwegs größeren Haushalt. Dann verschwanden sie in den Kellern – bis jetzt.
Da rollt Genuss anDer Servierwagen erlebt als Barwagen sein Comeback
Für manche ist es geradezu eine Art Reise in die Kindheit: Vor Jahrzehnten war ein klappbarer Servierwagen aus einer Kombination von verchromten Rohren und zwei Kunststoffplatten – meist in Braun oder Grün – hierzulande festes Inventar in jedem guten Haushalt. Der Wagen wurde genutzt, um Kaffeebesuch mit einer Biskuitrolle zu verköstigen. Meist stand er allerdings nur einsam im Wohnzimmer herum und diente als dankbare Ablage für Illustrierte und Untersetzer. Aus heutiger Sicht völlig aus der Zeit gefallen? Für eine ganze Weile schien es so – doch nun erlebt der Servierwagen sein Comeback: als Barwagen.
Bis zu 1200 Euro etwa muss man derzeit für ein Original des klappbaren Modells der Solinger Firma Bremshey aus dem Jahr 1955 ausgeben – denn es gilt längst als hippes Retro-Utensil für die moderne Großstadtwohnung. Das Vehikel trug den Namen Dinett, galt als erster klappbarer Servierwagen überhaupt – und hat es deswegen sogar ins Museum geschafft. Als einen „modischen Klassiker des bürgerlichen Möbeldesigns seiner Zeit“, würdigt ihn etwa das Ruhr-Museum in Essen. Bremshey, 1982 geschlossen, erfand übrigens noch einen zweiten Klassiker: den Knirps-Regenschirm. Wie dieser ist auch der Servierwagen aus heutiger Sicht ein zeitloses Must-have geworden.
Als mobile Minibar ist er inzwischen in Möbelhäusern und Onlineshops erhältlich, sei es aus Holz, Glas, Metall, Kunststoff oder einer Kombination aus mehreren Materialien. Die deutsche Firma Thonet, einer der ältesten Möbelhersteller im Land, hat gemeinsam mit der traditionsreichen Gin-Marke Tanqueray ein eigenes Exemplar konzipiert: den Tanqueray-x-Thonet-Barwagen. Er vereint das klassische Design mit einem eleganten Stahlrohrrahmen und macht ihn zum modernen Allroundobjekt für Haus und Garten.
Für Norbert Ruf, Creative Director bei Thonet, ist der Wagen heute so aktuell wie eh und je: „Der Hype um Whiskey, Gin, Wermut und auch die Serie ,Mad Men‘ hat die Aufmerksamkeit wieder auf den Barwagen gelenkt – auch wenn nur wenige ihn wirklich als Bar nutzen.“ Dennoch passe die Typologie des Barwagens perfekt in unsere hybride Welt. Er verbinde Funktionalität mit Skulpturalität, er präsentiere und sei selbst präsent. „Es ist ein mobiles Regal, das Nützlichkeit suggeriert und in seiner Mehrdeutigkeit inspiriert“, unterstreicht Designexperte Ruf.
Thonet ist bei Weitem nicht der einzige Hersteller, der in den vergangenen Monaten und Jahren neue und Neuauflagen früherer Barwagen präsentiert hat: Der Produktdesigner Sebastian Herkner gestaltete bereits vor Jahren für Schönbuch den Servierwagen „Grace“. Der hat sich wohl nicht zuletzt durch sein klares Design in Anlehnung an frühe Exemplare aus den Fünfzigerjahren schon jetzt zu einem Evergreen entwickelt.
Schnäppchen sind die Designerstücke nicht
Alvar Aalto entwarf bereits 1936 den Servierwagen 901 von Artek, der auch heute nach wie vor gefragt ist. Der finnische Architekt, Stadtplaner und Möbeldesigner setzte bei seinen Designs konsequent auf Holz – so auch beim 901 mit seinen auffallend großen Rädern. Ein Schnäppchen ist die Kreation indes nicht: Für einen echten Aalto-Wagen muss man heute um die 2500 Euro investieren.
Da haben Möbelriesen wie Ikea längst deutlich günstigere Varianten im Programm – vom Einsteigermodell Råshult bis zum Stenstorp. Im Vergleich zu den Exemplaren namhafter Gestalter dürften Fans des Interior Designs solche preiswerten Modelle allerdings als deutlich weniger markant wahrnehmen.
Der Servierwagen ist viel älter als das klappbare Exemplar, das Deutschland durch die Siebzigerjahre begleitet hat. Etabliert haben soll er sich bereits im Großbritannien unter Queen Victoria (1819–1901), was vor allem mit einem beliebten Zeitvertreib unter den Royals und ihren Gästen zu tun hatte: Der Afternoon Tea entwickelte sich damals zu einem festen Ritual unter den feinen viktorianischen Damen und Herren. Die Wagen eigneten sich perfekt, um Tee, Scones, Sandwiches und Gebäck zu servieren. Dass oft auch eine Flasche Champagner auf dem fahrbaren Tablett stand, verhalf dem Teewagen vielleicht ein bisschen zur Transformation zum heutigen Zweck als Barwagen.
Großer Auftritt selbst für einfache Speisen
Das rollende Möbelstück galt schon damals nicht nur als praktischer Genusstransporter in Herrenhäusern, Palästen und feinen Restaurants – es peppte selbst einfache Speisen ungemein auf. Ein Scone auf dem Tisch wirkt beispielsweise eher verloren. Wenn er aber zusammen mit allen anderen Bestandteilen eines Afternoon Teas angerollt kommt, hat auch dieses schlichte Gebäck einen großen Auftritt.
Im Grunde stand der Servierwagen im Laufe seines Bestehens Pate für zahlreiche längst fest etablierte Formen: Im südlichen China dient der Wagen in Restaurants seit jeher für das Servieren von Dim Sum, kleinen, in Bambuskörben gedünsteten Teigtaschen. In besseren Lokalen in England und Frankreich nutzt man das rollende Tablett gern als Süßspeisen- oder Käsewagen, um nach einem aufwendigen Dinner den passenden Abschluss zur Auswahl zu stellen. Vor allem aber kennt ihn fast jeder vom Weg in den Urlaub: Im Flugzeug hat der Servierwagen als Trolley Karriere gemacht. Und ist dadurch längst zu einem ganz eigenen Retro-Accessoire geworden.
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