Über 6000 Kilometer haben die Glaswaren der Familie Faisi aus Herat in Afghanistan zurückgelegt. Es ist eine Chance, ihr über Generationen weitergegebenes Handwerk zu retten.
2700 Jahre altes HandwerkKölner Händler verkauft die Kunst der letzten Glasbläser Afghanistans
Buntes Emaillegeschirr aus der Ukraine. Upcycling aus dem Senegal: Stiftkörbchen, zusammengeflochten aus Kronkorken, und Lampenschirme aus alten Ölfässern. Kulturbeutel, die aus ausgedienten Fischfutter- oder Zementsäcken in Kambodscha entstanden.
Alles Dinge, die Lukas Plum in seinem Geschäft an der Gladbacher Straße 36 verkauft. In jeder Ecke haben sich bei O.k. International weitere teils kuriose, kleine sowie größere Schätze aus der ganzen Welt in Köln eingefunden.
Doch ein Regal sticht in Plums Laden besonders hervor: Rund 50 Gefäße sind dort aufgestellt. Karaffen mit langem Hals, in konischer Form, mit Henkel, Krüge, Vasen, Becher und einige wenige Teller. Sie sind überwiegend aus blauem Glas, ein paar sind grün, braun oder weiß.
Herstellung von Glas ist eine „Art von Alchemie“
Es ist keine Leonardo-Kollektion aus den Neunzigern. Unikate stehen dort. Die Formen ähneln sich zwar, aber nicht bis ins Detail. Jedes Teil hat kleinere und größere Imperfektionen und einen ganz eigenen Charakter, sie wirken beinahe lebendig. Mal ist ein Karaffenhals länger, mal ist eine Tülle gebogener, mal das Glas milchiger, mal die Farbe weniger intensiv, mal sind besonders viele Luftbläschen eingeschlossen.
„Das geht eigentlich mehr in Richtung Kunsthandwerk und eigentlich ist das nicht so unser Business“, gibt Lukas Plum zu. Anders als das übliche Sortiment sind die Stücke daher auch in einer anderen Preislage. Ein kleiner Becher kostet bereits 15 Euro, ein großer Krug liegt bei 65 Euro. Daher ist es laut Plum auch schwieriger, diese Glaswaren zu verkaufen.
Der Inhaber von O.k. International macht es trotzdem – denn der Hintergrund der Gläser sei „sehr spannend“. Lukas Plum umschreibt den Herstellungsprozess als eine „Art von Alchemie“. Ihre Herkunft könne er vor allem in seinem Lieblingsstück wiedererkennen, eine fast einen halben Meter lange blaue Karaffe mit einem schmalen Hals und einer besonders dicken Wulst an der Öffnung.
Auf einer Postkarte in dem Regal ist ihr Schöpfer beim Glasblasen abgebildet. Es ist Nasrullah Faisi, zwischen 65 und 67 Jahre alt, aus Herat, einer Großstadt im Westen Afghanistans, über 6000 Kilometer von Köln entfernt, der mit seiner Familie alle Teile in Handarbeit angefertigt hat. Normalerweise hat Lukas Plum mit den Herstellern seiner Waren direkten Kontakt. Mit den Faisis hat er allerdings noch nie ein Wort gewechselt.
„In jedem dieser Gläser ist der Atem der Familie“
Wolfgang Bauer umso mehr. Der Reporter der Wochenzeitung „Die Zeit“ kennt die Faisis seit knapp 20 Jahren und besucht sie regelmäßig, wenn er in Afghanistan ist. Bauer hat die Glasmacher bei einer Reise im Jahr 2004 in Herat entdeckt. Ihre Arbeit faszinierte ihn sofort: „Dieses Glas habe ich in so einer Konsistenz noch nie gesehen – es ist im schönsten Sinne unrein.“
Besonders die Umstände, in denen das Glas entsteht, haben den langjährigen Kriegsberichterstatter Bauer berührt. Nasrullah Faisi und seine Familie leben im alten Herat, das sich aus zum Teil jahrhundertealten und verfallenen Gewölben aus Lehm zusammensetzt, am Rande der Armut. Ihre Werkstatt befindet sich in einem abgelegenen Innenhof.
Die Faisis sind die letzten Glasbläser Afghanistans – und die letzten ihrer Art. Sie nutzen selbst gebaute Lehmöfen, um das Glas zu schmelzen und mit einer Glasmacherpfeife formen zu können, ihre Farbstoffe sind auch aus eigener Produktion. Die Faisis arbeiten mit Techniken, die vor 2700 Jahren in Mesopotamien entstanden. Geheimnisse, die über Generationen hinweg und den vielen Kriegen in Afghanistan zum Trotz weitergegeben wurden. „In jedem dieser Gläser ist der Atem der Familie“, sagt Bauer.
Die Taliban kommen, die Kunden gehen und die Öfen stehen kalt
Die Glasmacher haben eine internationale Reputation. Sie wurde in der Vergangenheit schon zu Workshops ins Ausland eingeladen. Das leiteten die damalige afghanische Regierung und NGOs in die Wege.
Das änderte sich schlagartig im Jahr 2021, als die Taliban in Afghanistan wieder an die Macht kamen. Ihre Händler und Unterstützer hatten schlagartig das Land verlassen. Die Kundschaft, überwiegend westlich eingestellte Touristen, blieb fern.
„Nichts war mehr los“, erzählt Wolfgang Bauer, der die Familie Faisi ein Jahr später im Rahmen der Recherche für sein Buch „Am Ende der Straße“ wieder besucht hat. „Sie haben ihr letztes Glas in irgendwelche Nebengewölbe gestellt, in irgendwelche Pappkartons, und hatten innerlich eigentlich damit abgeschlossen“.
Stattdessen haben die einzelnen Familienmitglieder sich mit einem Friseurladen, Lebensmittelhandel und einem IT-Business durchgeschlagen. Die Lehmöfen der Faisis wurden zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten nicht mehr befeuert. Ihre Handwerkskunst drohte auszusterben.
Der Weg nach Deutschland
Der erfahrene Afghanistan-Reporter entschloss sich, der Familie zu helfen. Wolfgang Bauer suchte als eine Art Mittelsmann zunächst zwei Händler in Deutschland: O.k. International, mit Filialen in Köln und Berlin, sowie Schulz Teppich Etage in Reutlingen. Zusammen bestellten sie im Spätsommer 2023 insgesamt 1400 Teile bei den Glasmachern. Jedes Einzelne prüfte Bauer gemeinsam mit seinem Übersetzer persönlich vor Ort in Herat, damit sie auch den deutschen Standards genügen, bevor sie in zwölf Metallkisten verstaut wurden.
Dann ging es für sie auf Reise. Erst mit einer Art Rikscha von der Werkstatt der Faisis zu einem Parkplatz in Herat. Von dort aus mit einem deutschen Oldtimer-Bus aus den Sechzigern nach Kabul. Dann mit dem Flugzeug über Dubai nach Frankfurt. Im Herbst erreichte die Glaskunst aus Afghanistan schließlich die Geschäfte der Händler.
Allerdings nicht allzu lange. Die Gläser bekamen durch eine Reportage im „Zeit-Magazin“ von Wolfgang Bauer viel Aufmerksamkeit. Bei O.k. International gingen daraufhin etliche Bestellungen ein. Lukas Plum erinnert sich an die logistische Herausforderung: „Wir mussten ein Wochenende lang über 400 Pakete packen und waren danach ausverkauft.“
Die Nachfrage ließ nicht nach. Die Händler orderten im Januar erneut bei den Faisis. Ein finanzielles Risiko für Plum, wie schon die erste Bestellung. Denn die Geschichte Afghanistans hat schon mehrfach gezeigt, wie schnell es in dem Land kippen kann. Tausende Euro, die der Händler aus Köln investiert hat, wären auf einen Schlag weg.
Glas soll Afghanistan die Würde zurückgeben
Bei der zweiten Bestellung war lange unklar, ob die Familie sie überhaupt herstellen kann. Durch schwere Erdbeben starben Ende 2023 mehrere Menschen in Herat, die Werkstatt der Faisis war lange einsturzgefährdet.
Doch die Glasmacher schlugen sich durch, reparierten ihren beschädigten Lehmofen und erfüllten den Auftrag: Die 600 Teile kamen im Mai in Köln an, ein Drittel hat Lukas Plum bei O.k. International bereits verkauft.
Wolfgang Bauer hofft, dass die Familie Faisi zukünftig weitere Bestellungen aus Deutschland bekommt. Es sei nämlich keine reine Charity-Aktion gewesen, die deutschen Händler würden nicht nur aus Mitleid Glas bestellen, das sei auch den Faisis bewusst. Hier entsteht eine potenzielle Geschäftsbeziehung, die mit nur wenigen Aufträgen im Jahr dieses historische Handwerk retten kann. Daher sei die Familie laut Bauer „überglücklich und hoch motiviert“, sie legten sich „handwerklich richtig ins Zeug, um uns die beste Ware zu liefern“.
Es ginge aber nicht nur um die Handwerkskunst an sich. „Mit dem Glas kann man den Afghanen auch ein Stück weit die Würde wieder zurückgeben“, meint Bauer. „Afghanistan ist nicht nur Trauer, Elend und Not, sondern die Menschen haben auch ein Gespür für Schönheit, wie diese Gläser.“
Glaswaren aus Afghanistan bei O.k. International
Die Filiale in Köln befindet sich in der Gladbacher Straße 36 in 50672 Köln und hat dienstags bis freitags von 12 bis 18.30 Uhr sowie samstags von 12 bis 16 Uhr geöffnet. Die Glaskunst aus Afghanistan sowie andere Dinge aus der ganzen Welt können auch online unter ok-international.com gekauft werden.