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Kommentar

Fest in der Familie
So funktioniert Weihnachts-Tetris für Anfänger und Fortgeschrittene

Ein Kommentar von
Lesezeit 3 Minuten
Weihnachtsbäume und Nussknacker stehen im Bild.

Weihnachten in der Großfamilie ist manchmal unübersichtlich und logistisch herausfordernd. Am Ende darf man aber auch bei schwierigen Konstellationen zuversichtlich bleiben.

Was da unter dem Weihnachtsbaum zusammenschneit, passt in den seltensten Fällen gut zusammen. Warum Fusionen dennoch angestrebt werden sollten.

Der Heilige Abend ist für mich ein Tetris-Spiel. Es kommen ungefragt die unterschiedlichsten Besucher von der Decke geschneit. Einer passt nicht zum anderen, alle müssen aber möglichst prompt miteinander koordiniert werden, damit es am Ende einigermaßen unfallfrei abläuft und nicht der klobige Onkel mit dem schlecht gelaunten Freund der Schwester zusammenrasselt, der Großvater nicht weinend in der Küche verschwindet und die demente Großtante auf ihrem imaginierten Weg nach Ostpreußen nicht in die Tanne stürzt.

Als ich ein Kind war, barg die Ablaufplanung an Heiligabend eines der größten Streitrisiken in der Beziehung meiner Eltern. Es ging immer um Gerechtigkeit und darum, keinen der Großmütter, Großväter sowie Onkeln und Tanten zu benachteiligen. Der 24. Dezember wurde deshalb logistisch aufwändig vorausgeplant, mit dem Schwert der Justitia in gleich große Scheiben zu je zwei Stunden gesäbelt und schon gegen 12 Uhr mittags gestartet.

Zu Hause gab es die Bescherung bei heruntergekurbelten Rollläden, denn selbst Ende Dezember war es um diese Uhrzeit draußen noch hell und drinnen wenig stimmungsvoll. Dann klapperte die Familie über den Nachmittag hinweg die beiden Großeltern, am Abend die Tanten- und Onkelfamilien ab. Alle einzeln, alle gleich lang, stets darauf bedacht, den geschmückten Baum oder das Selbstgebackene möglichst fair ausdauernd und enthusiastisch zu loben. Am Ende schleppten sich alle erschöpft zur nächtlichen Christmette.

Weihnachtsbräuche familienübergreifend fusionieren

Die Sache funktionierte leidlich gut, bis wir Schwestern zusätzliche Tetrominos auf das penibel austarierte Konstrukt regnen ließen. Erst Freunde, die in den ersten Beziehungsjahren als familiäre Spiel-Elemente noch nicht zugelassen waren und deshalb ihre Geschenke lediglich im 20-Minuten-Frühstücksslot abgeben durften; später noch zukünftige Schwiegereltern oder gar Schwägerinnen, deren Weihnachtsbräuche mit den unseren fusioniert werden mussten.

Wirklich Weihnachten war für mich als Kind eigentlich immer erst am 25. Dezember, wenn der ganze Stress vorüber und ich in Ruhe mit meinem Barbie-Pferd über den Berber-Teppich im Flur reiten konnte. Wir Schwestern haben die logistische Meisterleistung meiner Eltern jahrelang verkannt und verflucht. Als junge Erwachsene schien mir nichts erstrebenswerter, als an Weihnachten drei Tage lang komplett allein und in Jogginghose mit einer Schachtel Keksen und ein paar Flaschen Christmas-Cola vor dem Fernseher sitzen zu können.

Bescherungs-Besetzungs-Plan für Fortgeschrittene

Verwirklicht habe ich diesen Wunsch nie. Genaugenommen hat sich das Bezirksliga-Tetris-Level von damals mittlerweile sogar auf Champions-League-Niveau geschraubt. Hinzugekommen sind neben eigenen und Patchwork-Kindern nämlich ein ganzer Haufen Schwiegereltern, viele Schwägerinnen, Neffen und Nichten und inzwischen auch ein Enkelkind. Die räumlichen Entfernungen haben die Schwierigkeitsstufe erhöht. Das Gebilde gewann an Dreidimensionalität. Die Puzzleteile reisen nun nämlich zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Konstellationen an unterschiedliche Orte, um sich dort nach einem immer neuen Bescherungs-Besetzungs-Plan zu gruppieren. Familiäre Schneeflockenkristallisation nennt man das, glaube ich, in der Fachsprache.

Aber je älter ich werde, umso klarer wird mir auch: Hinter der wahnwitzigen Komplexität liegt ein großes Glück, klagen doch viele Menschen darüber, an Weihnachten außer einer Packung Keksen und dem Weihnachtsmann auf der Cola-Flasche keine Gesellschaft zu haben. Zum Glück gibt es Initiativen wie keinerbleibtallein.net, nebenan.de oder gemeinsamerleben.com, über die sich Gleichgesinnte aus der Region finden und gemeinsam feiern können. Auf der Internetseite „Wege aus der Einsamkeit“ lässt es sich sogar an einem digitalen Fest per Zoom teilnehmen.

Wenn Sie bislang keine Weihnachts-Tetris-Erfahrung sammeln konnten, will ich Sie also ermutigen, das nachzuholen. Laden Sie die verwitwete Nachbarin ein oder den grummeligen Bruder, der sich seit Jahren nicht gemeldet hat, rufen Sie Ihre Eltern oder Kinder an und versöhnen Sie sich. Oder suchen Sie Anschluss über Vereine oder das Internet. Am Ende wird es vielleicht logistisch kompliziert. Aber manchmal passen Tetris-Teile ja doch überraschend gut zueinander. Und dann ist wirklich Weihnachten!