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Geflüchtete in EuropaLampedusa kämpft um Touristen – und versteckt die Migranten

Lesezeit 8 Minuten
Der Hafen von Lampedusa mit einem„ Bootsfriedhof“: Im Vordergrund Boote, mit denen Geflüchtete die südlichste Insel Italiens erreichen. Die Boote aus dünnen Metallschichten liegen häufig verlassen am Strand, wo die Menschen nach der Flucht ankommen.

Der Hafen von Lampedusa mit einem„ Bootsfriedhof“: Im Vordergrund Boote, mit denen Geflüchtete die südlichste Insel Italiens erreichen. Die Boote aus dünnen Metallschichten liegen häufig verlassen am Strand, wo die Menschen nach der Flucht ankommen.

Migranten werdet ihr hier nicht sehen, sagen die Einwohner von Lampedusa und preisen ihre Insel als Urlaubsparadies. Doch nur wenige Touristen kommen – und die Bootsflüchtlinge sind trotzdem da. Sie werden nur so gut es geht versteckt.

Das erste von Tausenden von Booten kam in einer kühlen Oktobernacht 1992 an. Gegen 22 Uhr hörte Angela Maraventano merkwürdige Geräusche von der Hafenpromenade, ihr Restaurant liegt auf einem Fels darüber. Sie horchte in die Dunkelheit: Lärmte dort unten ein Rudel streunender Hunde? Es dauerte ein wenig, bis sie erkannte, dass direkt unter ihrer Terrasse Menschen an Land kletterten.

Maraventano rief sofort die Guarda di Finanza, die zuständige Finanz- und Zollpolizei. Den 70 Gestalten, die von Bord gingen, brachte sie heißen Tee. Doch das erste der 70 Panini, die sie am nächsten Tag mit Prosciutto belegte, kam postwendend zurück. Muslime essen kein Schweinefleisch.

Schreib, dass es hier keine Migranten gibt
Strandverkäufer auf Lampedusa

„Wir waren unwissend. Und dann haben wir alles verstanden und angefangen zu lernen“, sagt sie heute und klingt dabei fast prophetisch. „Von da an war das ganze Phänomen geboren, und wir erkannten, dass es einen neuen Beruf gab: Er bestand darin, diese armen Teufel auszubeuten.“

In den folgenden Jahren sollte sie sich mehr und mehr radikalisieren, entrüstet über die europäische Politik. Doch damals wusste Maraventano nicht, wie bedeutsam diese Ankunft für Lampedusa sein würde, genauso wenig wie der damalige Polizeichef, der sich ebenso daran erinnert. Die Geflüchteten fragten ihn, wo es denn hier, auf dieser Stecknadel im Mittelmeer, zum Bahnhof ginge. Er initiierte eine Spendenaktion für Fährtickets, damit sie von Sizilien aus weiter aufs Festland reisen konnten.

Fischerinsel Lampedusa: Sinnbild des Scheiterns

Der ersten großen Gruppe von Migranten sind seitdem Hunderttausende aus Afrika und dem Nahen Osten an Lampedusas Küste gefolgt. Viele von ihnen sind auf dem Weg dorthin ertrunken. Wenn die EU bei den Wahlen am Sonntag einen Rechtsruck fürchtet, liegt es vor allem daran, dass sie seit Jahrzehnten darin versagt, die Migration übers Meer zu regeln. Es gibt Lesbos, den Ärmelkanal, die Straße von Gibraltar – doch kein Fleck Europas ist derart zum Sinnbild des Scheiterns geworden wie diese kleine Fischerinsel mit ihren 6000 Einwohnern. Wie leben sie hier mit diesem Schicksal?

Mai 2024: Migranten auf einem Boot und Seenotretter im Mittelmeer. Seenotretter haben im Mittelmeer nahe der italienischen Insel Lampedusa ein totes Baby geborgen. Es befand sich an Bord des Eisenbootes, auf dem mehr als 40 Menschen unterwegs waren.

Mai 2024: Migranten auf einem Boot und Seenotretter im Mittelmeer. Seenotretter haben im Mittelmeer nahe der italienischen Insel Lampedusa ein totes Baby geborgen. Es befand sich an Bord des Eisenbootes, auf dem mehr als 40 Menschen unterwegs waren.

Im Mai 2024 sieht die Realität ganz anders aus als die Katastrophenbilder aus den Medien. Im Hafen von Lampedusa schaukeln weiße Fischerboote, am Stadtstrand liegen bronzefarbene Italiener in der Sonne. Geflüchtete? Man sieht keinen einzigen. Nicht auf der Flaniermeile, nicht in den Pizzerien und Eiscafés, in den engen Gassen der Stadt.

Das Eingangstor zu Europa

Und doch kommen sie alle paar Stunden an; sie werden nur so gut es geht versteckt. Ein Bus des Roten Kreuzes rollt durch ein verrostetes Gittertor an der Molo Favaloro, es ist das Eingangstor zu Europa. An der 200 Meter langen Mole setzten die grauen Schiffe der Guarda die Finanza gerade 18 Menschen ab, die sie zuvor auf hoher See retteten.

Erwartet werden sie von Mitarbeitern von Frontex, der Polizei, einer Nonne, Freiwillige einer NGO bringen Decken und Hörnchen mit Pistaziencreme. Es ist ein Empfangskomitee, das teils sieben-, achtmal am Tag zur Mole fährt, nach einem standardisierten Protokoll die Ankömmlinge versorgt, befragt, wegfährt. Am Tag zuvor luden sie einen kleinen weißen Sarg aus. Ein sechs Monate altes Baby starb während der Überfahrt.

Gegenüber der Mole lädt eine Bar zum Aperitivo. Der lange Steg liegt zentral im Hafen, gut erkennbar von den Terrassen der Restaurants, von den Liegen am türkisblauen Wasser. Doch wenn der Hilfskonvoi verschwindet, sieht es hier aus wie in jedem anderen mediterranen Küstenort. Ein Strandverkäufer bittet: „Schreib, dass es hier keine Migranten gibt.“ Auf der Insel ist es die wichtigste Botschaft: Lampedusa sei kein großes Lager.

Und doch müssen die Geflüchteten hier irgendwo bleiben. Über einer Schotterpiste werden sie ins Inselinnere gefahren. Die Busse halten vor einem Eisentor, mitten in einem Tal, von außen kaum einsehbar und weit weg von den Einwohnern. Was sich drinnen abspielt, lässt sich nur durch die Gitterstäbe erahnen. Insgesamt kommen heute rund 150 Menschen an, sie stehen teils oberkörperfrei mit Taschen und Tüten in einer Warteschlange vor grauen Containern. Sie bleiben meist nur für 24 Stunden, bevor sie mit der Fähre nach Sizilien in ein weiteres Aufnahmelager gebracht werden.

Drei Viertel der Einwohner leben von Urlaubern

Die Insel leide unter einem Medieneffekt, Lampedusa werde als Gefängnis dargestellt, „wo diese armen Menschen festgehalten werden“, sagt Giandamioano Lombardo. Seine Familie eröffnete einst das erste Restaurant auf der Insel, heute führt er drei Hotelanlagen. Seine Gäste seien fast nur Italiener, weniger als 0,1 Prozent kämen aus dem europäischen Ausland. „Die Menschen haben Angst hierherzukommen.“

Mehr als drei Viertel der Einwohner leben von den Urlaubern, viele Fischer bauten ihre Schiffe für Touristen um. Manchmal passiert es, dass sie während der Sightseeing-Touren um die Insel auf Flüchtlingsboote treffen. Trotzdem wählten Urlauber den „Kaninchenstrand“ im Westen der Insel mehrfach zum schönsten in Europa.

Lombardo, der mit seinen zurückgekämmten Haaren wie der prototypische Patriarch aussieht, wünscht sich vor allem mehr Flugverbindungen. Warum werde Malta im Schnitt pro Tag fast hundert Mal angeflogen, Lampedusa dagegen nur fünf Mal? Weniger als 200 Kilometer liegen zwischen den beiden Inseln. Er wendet sich direkt an die Deutschen, die Spanier, die Franzosen. „Warum zeigen die Europäer keine Solidarität mit uns?“ Stattdessen kämen eher Japaner und Koreaner. „Das zeigt, was Europa von uns denkt. Wir werden im Stich gelassen.“

Rom schickt vor allem Militär

Europa schaut nur hin, wenn das Elend so groß wird, dass es nicht weggucken kann. 2013 ertranken mehr als 500 Menschen vor der Küste, die bis heute größte Tragödie. Der Papst kam, um eine Messe zu halten. Im vergangenen September erreichten 5000 Menschen die Insel an nur einem Tag, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen reiste mit Italiens Premierministerin Giorgia Meloni an. Ist Lampedusa mal wieder überfordert, das Hotspot-Lager mit seinen 400 Plätzen heillos überfüllt, versprechen sie Geld, einen Zehn-Punkte-Plan. Doch 2024 kamen bisher wieder 20?000 Migranten an.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (l) und italiens Premier Giorgia Meloni

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (l) und italiens Premier Giorgia Meloni

Abseits der Tragödien sind es Menschen zwischen 20 und 30 Jahren, die vor Ort Europas Verantwortung übernehmen. Die siebenköpfige Crew der „Aurora“, ein Rettungsboot der deutschen Hilfsorganisation „Sea Watch“, wechselt alle fünf Wochen, sonst wird die Belastung zu groß. Rachele, kurzer dunkler Pony, führt über das 14 Meter lange blaue Schiff, auf das sie die völlig entkräfteten Menschen aus ihren ein Millimeter dünnen Metallbooten ziehen.

Sie versuchen Leben zu retten, doch die Behörden drangsalieren sie mit Bußgeldern, schicken sie an Häfen, die Hunderte Kilometer weit weg liegen. Dabei, sagt Rachele, führten 80 bis 90 Prozent der Rettungen die italienischen Kräfte aus.

Die Menschen haben Angst hierherzukommen
Giandamioano Lombardoführt drei Hotelanlagen

Rom schickt viel Militär, Jeeps in Tarnfleck fahren über die Insel, einige Hotels beherbergen zur Hälfte Polizisten. Ihren Wahlkampf gewann die Postfaschistin Giorgia Meloni 2022 auch, weil sie ankündigte, die Migration zu stoppen. Den Lampedusanern nützt das rhetorische und militärische Aufplustern wenig. Sie wollen lieber Geld für Schulen, Straßen, ein Krankenhaus. Schwangere fliegen einige Wochen vor der Geburt nach Palermo, zahlen für die Unterkunft, weil sie auf der Insel nicht entbinden können.

Die Sache mit dem Respekt

Und dann ist da noch die Sache mit dem Respekt, „rispitto“. Die Bewohner waren die ersten, die den Geflüchteten halfen, ihnen Kleidung brachten, manche nahmen unbegleitete Kinder bei sich auf. Jeder Fischer hat eine Geschichte zu erzählen, von wundersamen Rettungen auf See und von Leichen, die sich in ihren Netzen verfingen. Als Sizilianer im wirtschaftlich schwachen Süden Italiens, als traditionelles Auswanderervolk, können viele die Flüchtenden verstehen. Nicht aber, dass Europa seit Jahrzehnten keine humane Lösung für die Migrationsroute über ihre Insel findet.

Als im September 2023 wieder Tausende ankamen, Journalisten ihre Teleprompter aufbauten, organisierte ein Künstler eine Protestbewegung. Es hieß, ein neues Zeltlager solle auf der Insel entstehen. Er, ein Puppenspieler, der ein Museum gründete, in dem er Fundsachen von Migranten ausstellt, rief nun in ein Megafon: „Wir wollen kein zweites Lesbos!“ Als die Fähre mit der Zeltstadt anlegte, verhinderten Hunderte Insulaner das Ausladen. Das neue Lager kam nicht. Als Meloni eintraf, sagte er ihr ins Gesicht, neue Millionen für Militär brauchten sie nicht, sondern Frieden und Dialog.

Dealen mit Menschen

Schon jetzt vergleichen die Lampedusaner die Migration mit einer Maschine. Andere nennen sie ein großes Geschäft. Zu ihnen gehört Angela Maraventano, die den ersten Flüchtlingen geholfen habe, damals im Oktober 1992. Sie betont es, weil sie sagt, deshalb könne sie keine Rassistin sei.

Maraventano, die ihr Restaurant „Der Sarazene“ seit 45 Jahren betreibt, die den Schinken auf den Panini für die ersten Migranten mit Käse ersetzte, kettete sich bereits an der Molo Favaloro an, um gegen die Migration zu protestieren. Früher wurde mit Drogen gedealt, sagt sie, heute mit Menschen.

In Tiktok-Videos preisen Schleuser aus Tunesien die kaum seetüchtigen Boote an, prahlen mit geglückten Überfahrten, für die sie Tausende Euro kassieren. Der Menschenhandel sei eine Schande, sagt Maraventano. Die EU kümmere sich nicht. Und auch in Rom müssten sie sich schämen.

Von 2008 bis 2013 war sie selbst dort, als Senatorin für die rechtspopulistische Lega-Partei. Zuvor amtierte sie als stellvertretende Bürgermeisterin Lampedusas. Doch es änderte sich nichts. 2022 trat sie aus der Lega aus, nachdem ihr Mann starb. Die Populistin steckt noch immer in ihr drin. Die Geflüchteten, sagt sie, bauten nichts in ihren Herkunftsländern auf. Und: „Wenn Deutschland unser Problem löst, mache ich den Vorschlag, dass es uns annektiert.“

Viele Lampedusani sind verbittert, wütend, hoffnungslos

Wie Maraventano wirken viele Lampedusani verbittert, wütend, hoffnungslos. Einige werden bei der Wahl leere Zettel abgeben. Während die EU jüngst ihre große Asylreform verabschiedete, nach zehn Jahren und Milliardendeals mit Autokratien, nach vielen Push-Backs im Mittelmeer und ausgesetzten Migranten in der Wüste, versuchen sie hier trotzdem ihre Menschlichkeit zu bewahren.

Im Juli 2021 wurde ein Kind auf der Insel geboren, das erste seit 51 Jahren. Der Helikopter konnte die übers Meer geflohene Mutter nicht rechtzeitig nach Sizilien fliegen. Die Eltern tauften das Mädchen Maria. Am 4. Mai 2024 verlieh Lampedusa ihr die Ehrenbürgerschaft.


Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.