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Kommentar

Gesellschaftlicher Konsens
Warum wir mehr Mainstream brauchen

Ein Kommentar von
Lesezeit 6 Minuten
Auf einem Schild mit der Schrift „Besucher“ hat jemand handschriftlich die weibliche Form „innen“ ergänzt.

„Wir haben nicht zu viel, sondern eher zu wenig Mainstream – dann zumindest, wenn man unter Mainstream einen Konsens über moralische und politische Standards im Sinne des Grundgesetzes versteht.“ (Archivbild)

Vor allem in politischen Diskussionen ist es modern geworden, andere Meinungen als „Mainstream“ abzutun. Klimaschutz, Gendern, Corona-Maßnahmen – all dies führte schon zu solchen Vorwürfen. Aber sind diese Positionen wirklich alle Mainstream? Und wenn ja: Wäre das wirklich so schlimm?

Ich bekomme – wie meine Kolleginnen und Kollegen – immer mal wieder Briefe, analog und digital. Viele darunter sind kritisch. Das liegt in der Natur der Sache. Denn Tadel motiviert eher zum Schreiben als Lob. Das ist bei Journalisten nicht anders als bei ihren Lesern, Hörern, Zuschauern.

Manche Briefe sind aber auch regelrecht beleidigend, wie etwa der aus der Zeit der Corona-Krise, in dem stand: „Ihre geifernde Empörung (…) ist einfach nur widerlich, weil sie opportunistisch dem Mainstream in hündischer Gehorsamkeit vorauseilen.“ Andererseits ist dieser Satz typisch. Denn darin taucht das Wort „Mainstream“ auf.

Kürzlich schrieb mir ein Mann zu einem Klimaschutzartikel: „Alles ist auf Mainstream glattgebügelt.“ Dabei gebe es doch Experten, die erhebliche Zweifel an der These hätten, dass der Klimawandel auf den CO2-Ausstoß zurückzuführen sei. Ein anderer ließ mich via E-Mail wissen: „Die AfD ist eine demokratisch gewählte Partei und hat andere politische Vorstellungen als die Ampel und der Mainstream, geführt von den Medien.“

Das legt den Verdacht nahe, als komme der Mainstream-Vorwurf ausschließlich aus der konservativen oder der rechten Ecke. Das stimmt überwiegend, aber nicht immer.

Irgendetwas kann da nicht stimmen

Im Mai erhielt ich eine Zuschrift von der Ostsee, in der zu lesen war: „Sie bewegen sich im Mainstream der deutschen Presse: Viele Medien reiten derzeit penetrant auf den Verlusten der Grünen in dem kleinen Bremen herum, erwähnen jedoch nicht die teilweise hohen Gewinne der Grünen bei den Kommunalwahlen in dem großen Schleswig-Holstein.“ Dabei lautet das Leserbrief-Mainstream-Urteil überwiegend genau andersherum: dass wir Journalisten vor den Grünen auf den Knien rutschen. Irgendetwas kann da also nicht stimmen.

Schließlich fällt mir noch eine ehemalige Journalistenkollegin ein, die in einer norddeutschen Großstadt erfolgreich für ein Oberbürgermeisteramt kandidierte, später aber ins Strudeln geriet und das Amt vorzeitig verlor.

Ich hatte lange verhalten positiv über die Exkollegin geschrieben, die ich vorher gar nicht kannte. Ich fand es toll, dass sie den Sprung von der Rolle der Beobachterin in die Rolle der politisch Verantwortlichen wagte – schwenkte indes aufgrund ihrer Amtsführung notgedrungen auf eine kritischere Linie um. Als wir uns einige Monate nach dem Ausscheiden der Oberbürgermeisterin zufällig wieder trafen, sah mich die Frau böse an und schimpfte, ich sei mit meiner Berichterstattung „im Mainstream versackt“. Da war ich sprachlos.

Das alles geht mir unentwegt im Kopf herum. Denn ich finde den Mainstream-Vorwurf nicht nur unscharf – was verzeihlich wäre. Ich finde ihn überdies falsch, ja politisch gefährlich. Und ich will hier sagen, warum.

Die beschriebenen Beispiele zeigen zunächst, dass recht nebulös bleibt, was der „Mainstream“ eigentlich ist – außer ein vielseitig einsetzbarer Kampfbegriff. Nehmen wir das Gendern, das man mit guten Gründen begrüßen und mit nicht minder guten Gründen beklagen kann. In rechtspopulistischen Kreisen heißt es, Gendern sei Mainstream. Tatsächlich beobachte ich die Neigung, der Geschlechtergerechtigkeit in der Sprache mehr Geltung zu verschaffen, vornehmlich in akademischen Milieus – und dort außerdem in linken und liberalen. Dabei betrug der Anteil der Menschen mit Hochschulabschluss in den mittleren Jahrgängen zuletzt nicht einmal 30 Prozent. Die Mehrheit ist das nicht.

Die Zahl der Fraktionen hat sich verdoppelt

In der Politik gab es mal so etwas wie einen Mainstream, abgebildet von den Volksparteien CDU/CSU und SPD, die ehedem regelmäßig über 40 Prozent der Stimmen bekamen und sich zum Regieren nur noch einen kleineren Koalitionspartner suchen mussten. In der Frühphase der Bundesrepublik war das die FDP, die von der Union zur SPD wechselte und anschließend wieder zurück.

Doch in den 1980er-Jahren gesellten sich die Grünen dazu, in den 1990er-Jahren die PDS, die in den Nullerjahren in der Linken aufging, sowie knapp zehn Jahre darauf die AfD. Die Zahl der Fraktionen hat sich verdoppelt. Damit nicht genug: Mittlerweile werden der erwarteten Sahra-Wagenknecht-Partei beste Chancen eingeräumt, ins Parlament einzuziehen. Die Freien Wähler liegen ebenfalls auf der Lauer. Wo da noch der Mainstream sein soll, ist mir schleierhaft.

Medial sind die Verhältnisse ähnlich. Zwischen der linken „tageszeitung“ und der konservativ-rechtsliberalen „Welt“ gibt es ein breites Spektrum, das sich parallel zur Geburt der AfD um eine politisch ähnlich gestrickte rechtspopulistische Grauzone erweitert hat – von diversen Onlineangeboten, die den Anschein von Journalismus erwecken, ganz zu schweigen.

Alles ist auf Mainstream glattgebügelt.
Leserbriefautor

In der Summe würde ich deshalb sagen: Wir haben nicht zu viel, sondern eher zu wenig Mainstream – dann zumindest, wenn man unter Mainstream einen Konsens über moralische und politische Standards im Sinne des Grundgesetzes versteht. Dazu gehören: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ (Artikel 1) „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ (Artikel 20) „Eigentum verpflichtet.“ (Artikel 14) Um nur ein paar wenige zu nennen. Wenn sich diese Standards nicht mehr von selbst verstehen, sondern wir auch sie – wie so vieles in diesen wilden Zeiten – neu aushandeln müssen, dann verliert unsere Demokratie ihre Basis und damit ihren Halt.

Es ist wie bei einer Beziehung. Ein weiser Freund sagte mir mal, da brauche es 80 Prozent grundsätzliche Übereinstimmung und 20 Prozent Trennendes (damit die Spannung nicht ganz flöten geht). Ich weiß nicht, ob die Übereinstimmung in der Demokratie bei 80 Prozent liegen muss. Doch zwei Drittel wären bestimmt nicht schlecht.

Ein weiterer gefährlicher Punkt kommt hinzu: All jene Menschen, die die Existenz des Mainstreams monieren, sind mit der Politik und dem Funktionieren der Demokratie insgesamt unzufrieden. Das ist legitim und bisweilen berechtigt. In der Folge bevorzugen sie Parteien, die von diesem Mainstream abweichen. Das ist ebenfalls legitim und bisweilen berechtigt. Es führt allerdings in der Theorie wie in der Praxis dazu, dass das Parteiensystem zersplittert und am Ende völlig unterschiedliche Parteien gemeinsam regieren müssen. Das Ergebnis sind ständiger Streit oder inkonsistente Politik. Das wiederum erhöht den Frust in der Bevölkerung zusätzlich und destabilisiert die ohnehin instabil gewordene Demokratie noch mehr. Im Extremfall droht Unregierbarkeit.

Ein besonders krasses Beispiel dafür ist Thüringen. Dort bilden Linke, Sozialdemokraten und Grüne eine Minderheitsregierung – unter anderem, weil die Linke und die CDU nicht zueinanderfinden (was seinerseits ein Beleg dafür zu sein scheint, dass der Mainstream nicht so mainstreamig ist wie gesagt wird). Umgekehrt haben CDU, AfD und FDP zuletzt gemeinsam ein Gesetz durchgebracht, nämlich das zur Senkung der Grunderwerbsteuer. Die Grenzen zwischen Regierung und Opposition verwischen. Und es wird tüchtig taktiert. Das tut dem schönen Thüringen nicht gut.

Auch die Berliner Ampelkoalition resultiert aus zu wenig Mainstream. Denn die Grünen und die FDP passen nicht zusammen und blockieren sich vielfach gegenseitig. Aus diesem Gegensatz ergibt sich unter anderem der aktuelle Haushaltsstreit. Die Grünen wollten Milliarden für den Klimaschutz, die Liberalen wollten aber keine weiteren Schulden. So wurde auf Geheiß des SPD-Kanzlers Olaf Scholz, der es beiden Partnern um des eigenen Machterwerbs willen recht machen wollte, mit dem Klima- und Transformationsfonds ein verfassungswidriges Konstrukt geschaffen.

Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Artikel 1des Grundgesetzes

Und seit dem Urteil aus Karlsruhe ist das Berliner Regierungsviertel unter großen Mühen mit den Reparaturarbeiten beschäftigt. Das unterspült die Akzeptanz des Parlamentarismus. Jenseits des Regierungsviertels entsteht der Eindruck: Die in Berlin kriegen es nicht geregelt. In Wahrheit sind die Wähler mit ihren Entscheidungen an der Urne daran aber nicht ganz unschuldig.

Das und mehr denke ich jedenfalls, wenn ich E-Mails bekomme, in denen es mal wieder gegen den „Mainstream“ geht. Abgesehen davon, dass ich nicht weiß, was bei uns noch Mainstream ist, weiß ich eines nämlich ganz sicher: Etwas mehr Mainstream würde uns allen nicht schaden.


Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.