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Interview„Ein Nein kann Konsequenzen haben, aber vielleicht sind die es auch wert“

Lesezeit 9 Minuten
Illustration: eine Frau zeigt eine abwehrende Handbewegung

Was ungesund ist: dass wir Nein spüren und Ja sagen. Dann müssen wir uns selbst verbiegen, und das verursacht Stress.

Eine Bitte ablehnen, eigene Grenzen ziehen: Oft fällt es uns schwer, Nein zu sagen. Warum, weiß die Psychologin Amina Özelsel.

Frau Özelsel, warum ist es gut, Nein sagen zu können?

Weil es guttut, innere Klarheit zu haben und Verantwortung für die eigenen Entscheidungen zu übernehmen. Es ist gesund, die eigenen Grenzen zu kennen und zu wahren. Gut Nein sagen zu können hilft im Stressmanagement. Menschen mit dieser Fähigkeit, das zeigt die Forschung, sind mehr im Einklang mit sich selbst, haben bessere Werte bei allen physiologischen Stressindikatoren und höhere Zufriedenheitswerte in vielen Lebensbereichen. Was dagegen ungesund ist, ist diese Inkongruenz: dass wir Nein spüren und Ja sagen. Dann müssen wir uns selbst verbiegen, und das verursacht Stress.

Warum passiert uns das so oft?

Wir tragen unterschiedliche Bedürfnisse und Wünsche in uns. Einerseits spüren wir Belastungsgrenzen. Andererseits wollen wir andere Menschen nicht enttäuschen, wollen helfen, wollen besonders liebenswürdig sein. Es gibt etliche solcher Konflikte, die wir mit uns selbst austragen.

Oft ist es ja aber auch die Angst vor Konsequenzen.

Das stimmt, solche Ängste gibt es oft: Was passiert, wenn ich Nein sage? Verliere ich dadurch den Kunden? Vermassele ich mir die Beförderung? Enttäusche ich eine Kollegin oder eine Freundin, die mich dann nicht mehr mag? Ich würde dazu einladen, solche Befürchtungen zu überprüfen. Aus der Praxis weiß ich, dass Menschen ganz häufig Gott weiß was für Fantasien haben, was alles passieren könnte – und dann sehr überrascht sind, dass die Welt sich weiterdreht, dass gute Freundschaften nicht kaputt gehen, dass es dem Umfeld gar nicht negativ auffällt.

Und was, wenn die Konsequenzen doch so eintreten wie befürchtet?

Man sollte sich fragen: Was ist mir wirklich wichtig? Wenn ich eine Freundschaft nur dann erhalten kann, wenn ich ständig über meine Grenzen gehe, ist es dann die richtige Freundschaft für mich? Ist der Auftrag im Job so wichtig, dass ich zu Hause so müde bin, dass meine Ehe darunter leidet? Ein Nein kann Konsequenzen haben, klar, aber vielleicht sind die es in manchen Fällen auch wert.

Also im Zweifel das Nein riskieren und schauen, was daraus erwächst?

Riskieren, das klingt gleich wieder so gefährlich. Ich würde sagen: ausprobieren. Man muss ja auch nicht gleich mit der schwersten Aufgabe anfangen, sondern erst mal ein paar kleinere Neins ausprobieren und schauen, was passiert – oder eben nicht passiert. Viele innere Antreiber, die unser Verhalten prägen, entstehen in der Kindheit. Etwa, weil wir in der Familie Vorbilder haben, die Stärke und Disziplin vorleben. Weil wir Krisen erleben, etwa die Trennung der Eltern. So erwachsen Glaubenssätze wie „Ich muss immer stark sein“. Oder „Ich muss es allen recht machen“. Das kann dazu führen, dass man die eigenen Bedürfnisse ausblendet. Es kann sehr wertvoll sein, diese Glaubenssätze als Erwachsener zu überprüfen.

Sie schreiben in Ihrer Doktorarbeit, dass die Fähigkeit zum Nein-Sagen viel über das „Selbstkonstrukt“ eines Menschen aussagt. Was meinen Sie damit?

Es geht darum, wie sehr man andere Menschen in die eigene Identität integriert. Das ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. Stellen Sie sich Kreise vor, jeder Kreis steht für eine Person. Bei manchen Menschen steht der eigene Kreis allein, mit mehr oder weniger Abstand zu den anderen. Für diese Menschen ist es in der Regel viel einfacher, Grenzen zu ziehen, sich auf sich selbst zu konzentrieren und Nein zu Dingen zu sagen, die sie nicht möchten.

Dann gibt es aber auch Menschen, deren Kreis sich mit den Kreisen anderer Menschen überlappt. Für diese Menschen steht die Verbundenheit zu Anderen im Vordergrund, sie verstehen ihr eigenes Ich in wechselseitiger Abhängigkeit zu anderen Menschen, man nennt es Interdependenz. Das Verhalten interdependenter Menschen wird davon beeinflusst, wie andere denken, fühlen und auf ihr Verhalten reagieren. In Nein-sage-Situationen geht es dann nicht nur um die eigenen Bedürfnisse, sondern auch um die Bedürfnisse der anderen. Das macht Nein-Sagen schwieriger.

Ich schätze, Männer haben tendenziell eher autarke Kreise, Frauen mehr Überlappungen?

Das stimmt. Wobei ich es wichtig finde zu sagen: Insgesamt gibt es beim Selbstkonstrukt viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Und natürlich gibt es etliche Frauen, deren Kreise alleine stehen und etliche Männer mit Überlappungen.

Insgesamt aber zeigen Studien und Experimente, dass Frauen in ihrer Selbstkonstruktion tatsächlich stärker als Männer von Interdependenzen geprägt sind. Und dass sie folglich stärker die Sorge in sich tragen, ein Nein könnte eine Beziehung gefährden, sozusagen zur Trennung der Kreise führen. Deshalb haben wir übrigens auch ein Experiment durchgeführt, das diese Sorge ausschließt oder zumindest minimiert – und prompt schnitten Frauen besser ab im Nein-Sagen als Männer.

Was für ein Experiment war das?

Da ging es um Kindererziehung. Konkret: dem eigenen Kind beizubringen, dass es Grenzen gibt. Also Nein zu sagen, wenn ein Kind etwas möchte, das unangemessen ist oder vielleicht sogar schädlich für das Kind sein kann. Grenzen zu setzen gehört zur Kindererziehung dazu, man weiß, dass die Beziehung deswegen nicht auseinanderbricht. Frauen hatten in diesem Kontext keine Probleme mit klaren Neins.

Und wieso waren sie sogar besser im Nein-Sagen als die Männer?

Vielleicht, weil Frauen in diesem speziellen Kontext mehr Routine haben. Und Männer, die im Schnitt immer noch deutlich weniger Zeit mit den Kindern verbringen, in ihren Phasen mit den Kindern nicht der Spielverderber sein möchten. Aber das kann ich nicht mit Gewissheit sagen. Jedenfalls passt das Ergebnis zu der Annahme, dass Frauen schlechter Nein sagen können, weil sie stärker fürchten, dadurch Beziehungen zu gefährden.

Unterschiede zwischen den Kulturen

Warum ist es eigentlich so, dass Frauen sich stärker in einem Beziehungsgeflecht verorten als Männer?

Ich glaube, es liegt vor allem daran, dass Mädchen und Jungs noch immer unterschiedlich erzogen werden. Dass man mit Mädchen – auch heute noch – tendenziell mehr über Gefühle spricht als mit Jungs. Dass man sie eher dafür lobt, wenn sie anderen geholfen haben, für andere da waren, sich um andere gekümmert haben, während Jungs auch heute noch ein bisschen mehr dazu ermuntert werden, ihren Mann zu stehen, sich durchzusetzen.

Sie meinen, die Unterschiede sind gelernt, nicht angeboren?

Ja. Dafür spricht ja auch, dass es solche Unterschiede ebenfalls zwischen Kulturen gibt. Ich habe Familie in Deutschland und in der Türkei, kenne beide Länder gut, und ich bin mir sicher: In der Türkei werden die Kreise viel mehr überlappen als in Deutschland. Eben, weil wir in Deutschland eine eher individualistische Gesellschaft haben und in der Türkei eine eher kollektivistische.

Die Deutschen können besser Nein sagen?

Sie tun es auf jeden Fall direkter. In Rankings zu direkter Kommunikation gehört Deutschland zur absoluten Spitzengruppe weltweit. Man sagt in Deutschland, was Sache ist, spart damit Zeit, verhindert Unsicherheiten – und kommt in Ländern, die eine indirektere Kommunikation pflegen, oft als harsch und unhöflich rüber. Zum Vergleich: Die Japaner kennen etliche Methoden, Nein zu sagen, ohne das Wort Nein überhaupt zu benutzen.

Und die Türkinnen und Türken?

Auch in der Türkei geht es darum, dass niemand sein Gesicht verliert, damit Beziehungen nicht gefährdet werden. So ist es in der Türkei zum Beispiel viel akzeptabler, etwas über Dritte übermitteln zu lassen, was in Deutschland nicht so gern gesehen wird. Oder man vertröstet auf später oder stellt eine Gegenfrage, statt eine klare Antwort zu geben. Deutsche fänden das vermutlich irritierend, aber in der Türkei, innerhalb des dort etablierten Kommunikationssystems, versteht man, was das Gegenüber eigentlich sagen will.

Welche Variante ist besser? Sie plädierten anfangs für Klarheit.

Klarheit dem anderen und vor allem sich selbst gegenüber, ja. Die kann es aber auch im kollektivistischen System geben, wenn jeder die dort vorherrschende indirekte Kommunikation zu interpretieren weiß. Aber kulturelle Eigenheiten können ein Nein fraglos schwieriger machen.

Haben Sie ein Beispiel?

Kürzlich hatte ich eine Klientin aus dem arabischen Raum. Die schrieb gerade unter Hochdruck ihre Dissertation, kam aber nicht wie gewünscht voran, weil ihre ebenfalls arabischstämmigen Nachbarn ständig an der Tür klingelten. Dazu muss man wissen, dass es in diesem Kulturraum dazugehört, dass man sich viel besucht, auch ohne sich vorher anzukündigen. Man wird hereingebeten, trinkt einen Tee zusammen, quatscht ein bisschen. Das stärkt die Gemeinschaft – war aber in dieser konkreten Lage schwierig. Als die Klientin ihren deutschen Freunden davon erzählte, lautete deren Antwort: Sag doch einfach, dass du zu tun hast und fertig. Die haben das Dilemma gar nicht verstanden, in dem die Klientin steckte.

Ein Nein ist ein Ja zu einer anderen Sache

Was haben Sie ihr geraten?

Wir haben die beiden Ziele, die ihr wichtig waren, nebeneinandergestellt: Zeit für die Dissertation zu haben und Menschen aus ihrer Gemeinschaft nicht vor den Kopf zu stoßen. Die Nachbarn hineinzubitten setzte sie unter Druck, löste zunehmend Ärger aus. Sie konnte reflektieren, dass dieser Ärger auf Dauer der Beziehung schaden kann. Die Klientin hat dann experimentiert, was ihr mehr Freiraum verschaffen könnte, ohne die soziale Beziehungen zu belasten.

Einiges davon fällt unter indirekte Kommunikation, zum Beispiel einfach nicht zu Hause zu sein und stattdessen in der Bibliothek zu arbeiten. Aber sie hat auch probiert, es den Nachbarn auf beziehungswahrende Weise zu erklären, etwa gesagt, dass sie traurig sei, dass sich gerade alles in ihrem Leben um die Dissertation drehen muss und dass sie sich darauf freut, wieder mehr unter Menschen zu sein, wenn die Phase vorbei ist. So hat sie nach und nach einen Mittelweg gefunden. Wie bei ihr geht es in den meisten Fällen ja gar nicht um einen radikalen Wandel, sondern um Anpassungen.

Also die Strategie: Selbstbeobachtung und Ausprobieren?

Genau, das würde ich jeder und jedem raten. Und übrigens hilft es auch, sich bewusst zu machen: Ein Nein ist immer auch ein Ja zu einer anderen Sache. Zu mehr Zeit mit der Familie, mehr Ruhe, mehr Sport, mehr Engagement im Beruf.

Können Sie eigentlich gut Nein sagen?

Ich übe. Ich habe das Helfersyndrom, muss auf meine eigenen Grenzen achten. Bei einem Elternabend vor einigen Jahren habe ich mich sogar auf meine Hände gesetzt, als die Frage kam, wer Elternvertreter wird. Weil ich die Stille nach dieser Frage nur ganz schwer aushalten kann und meine Hand dann unwillkürlich hochgeht.

Und, hat es funktioniert?

Ja. Ich bin zwar die Vertreterin der Vertreterin geworden. Aber dafür habe ich mich dann bewusst entschieden.


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