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Interview mit Resilienztrainerin„Frühkindliche Beziehung zur Mutter spielt eine große Rolle bei Problemen in der Liebe“

Lesezeit 9 Minuten
Illustration: Ein ramponiertes Herz vor abstraktem Hintergrund

„Es fällt vielen Menschen sehr schwer, mutig für ihre seelischen Bedürfnisse einzutreten“, sagt Birgit Haus.

Wie kommt es zum Leiden an und in der Liebe? Und was können Betroffene tun? Resilienztrainerin und Autorin Birgit Haus im Interview.

Bevor wir über Liebe sprechen: Was ist Liebe überhaupt?

Birgit Haus: Liebe verbindet. Sie nährt und baut Brücken. Sie schenkt uns Sicherheit und Geborgenheit. Liebe ist etwas komplett Unbegrenztes und zu 100 Prozent Bejahendes. Liebe ist allumfassend.

Sie beschreiben die kognitive Dimension. Kann man die Liebe auch körperlich spüren?

Ich finde diese Frage wunderbar, denn der Körper ist gewissermaßen die Bühne der Gefühle. Wenn Liebe zwischen zwei Menschen strömt, erzeugt sie immer Wärme und ein Gefühl der Verbundenheit. Sie ist ein wohliges Strömen im Körper. Wir können tief durchatmen und einfach sein.

Das klingt wunderschön, aber der Titel Ihres Buches „Lieben ohne Leiden“ suggeriert ja schon, dass Liebe nicht immer so warm und wohlig ist. Meine Podcast-Partnerin, die Paar- und Sexualtherapeutin Ann-Marlene Henning, sagt immer: „Wenn wir lieben, dann ist die Kindheit auf on.“ Was sagen Sie dazu?

Diese Aussage gefällt mir sehr gut. Meine tägliche therapeutische Erfahrung zeigt mir, dass ich bei nahezu jeder schmerzlichen Liebeserfahrung, die Menschen dazu motiviert, meine Unterstützung zu suchen, in der Therapie mit ihnen in ihrer Kindheit lande. Ich frage sie dann: „Kennst du dieses Gefühl bereits früher aus deinem Leben?“ Fast immer kommt eine sehr konkrete Erinnerung an eine Situation aus der Kindheit hoch.

Vermutlich eine Situation, in der das Kind eine sehr schmerzhafte Erfahrung gemacht hat?

Genau. Diese Verletzlichkeit oder auch Entwicklungstraumata bringen wir oftmals schon aus der Kindheit mit. Unter Entwicklungstrauma verstehe ich sich regelmäßig wiederholende belastende, schwierige Erfahrungen in der Kindheit. Damit haben sehr viele Menschen zu tun.

Mit dem inneren Kind in Kontakt kommen

Was können das für Traumata sein?

Wenn etwa Mutter und Kind zu früh voneinander getrennt werden und in der Folge immer wieder, dann kann das für das Kind existenziell bedrohlich sein. Wenn das Kind angeschrien wird, fühlt es sich bedroht und meistens auch „falsch“. Wenn es körperliche Gewalt erfährt, empfindet es Schuld und Scham. Wenn es vernachlässigt wird, nicht genug Zuwendung und Aufmerksamkeit erfährt, fühlt es sich ungeliebt.

Gibt es Menschen, die Liebe gar nicht spüren können, weil sie so schwer entwicklungstraumatisiert sind?

Leider ja. Ich habe ein Paar begleitet, bei dem die Frau sehr darunter gelitten hat, dass sie kein Liebesbekenntnis von ihrem Mann bekam. Der Mann wiederum verzweifelte darüber, seiner Frau etwas geben zu sollen, wovon er selbst gar nicht sagen konnte, wie es sich für ihn anfühlt.

Was war sein Trauma?

Der Mann war ein uneheliches Kind. Seinen Vater hatte er nie kennengelernt. Und als er im Erwachsenenalter schließlich erfahren hat, wer sein Vater ist, hat er ihm einen Brief geschrieben. Er wollte ihn treffen. Aber bevor es zu dem Treffen kam, ist der Vater gestorben.

Hinzu kam, dass er zu DDR-Zeiten aufgewachsen ist und seine Mutter ihn bereits mit wenigen Wochen in die Wochenkrippe gegeben hatte. Er verbrachte nur sehr wenig Zeit mit seiner Mutter, die wiederum auch sehr belastet war und ihm nicht die Geborgenheit und Wärme geben konnte, die er gebraucht hätte. Er sagte immer zu mir, dass er nicht wisse, was Liebe wäre.

Indem er spürte, wie sehr der Sohn ihn suchte, kam er auch sehr viel besser mit seinem eigenen inneren Kind in Kontakt. Ihm kam das Gefühl des Mangels in seiner Kindheit in Erinnerung, dass er nie einen Vater hatte. Seinem Sohn konnte er das jetzt geben, weil er genau wusste, was ihm gefehlt hat.
Birgit Haus

Besteht denn die Chance, dieses Gefühl auch noch als erwachsener Mensch zu entwickeln?

Ja, das ist das Hoffnungsvolle an meiner Arbeit. Besagtes Paar hat in der Zeit, in der sie bei mir in der Therapie waren, ein Kind bekommen. Über seinen Sohn hat der Mann entdeckt, was Liebe ist, beziehungsweise seine Vaterliebe. Indem er spürte, wie sehr der Sohn ihn suchte, kam er auch sehr viel besser mit seinem eigenen inneren Kind in Kontakt. Ihm kam das Gefühl des Mangels in seiner Kindheit in Erinnerung, dass er nie einen Vater hatte. Seinem Sohn konnte er das jetzt geben, weil er genau wusste, was ihm gefehlt hat.

Die Rolle der Mutter

Welche Prozesse laufen da ab?

Egal wie unsicher die Bindung in der Kindheit zu den frühen Bezugspersonen war, wir können diese Beziehung im Nachhinein heilen. Es ist möglich über Inneres-Kind-Arbeit, indem wir aus unserem erwachsenen Ich-Bewusstsein zu unserem inneren Kind Kontakt aufnehmen, also zu all den positiven Erfahrungen wie auch wütenden, schmerzlichen und traurigen Gefühlen, die wir als Kind erlebt haben. Über einen inneren Dialog mit dem Kind in uns können wir erfahren, was ihm gefehlt hat und was es sich heute von uns wünscht. Das Gelingen dieser Beziehung nenne ich Selbstliebe.

In Ihrem Buch klingt an, dass der Mutter eine besondere Bedeutung zukommt, wenn es darum geht, eine sichere Bindung zu entwickeln.

Der US-Psychotraumatologe Peter Levine hat kürzlich etwas sehr Krasses in einem Interview formuliert. Er sagte, wenn ihr eine friedliche Gesellschaft wollt, gebt eure Kinder erst mit drei Jahren in die Betreuung. Wenn ihr viele Aggressionen wollt, dann früher. Das ist in heutiger Zeit eine sehr unpopuläre These.

Das stimmt wohl. Zumal es in den meisten Fällen die Mütter sind, die die Care-Arbeit zu Hause übernehmen. Das klingt so, als hänge von den Müttern das gesamte Seelenheil ihrer Kinder ab.

Ich habe tatsächlich die Beobachtung gemacht, dass die Menschen, die große Probleme in Liebesbeziehungen haben und ganz wenig Vertrauen entwickeln können, oft zu frühe, zu häufige oder zu lange Trennungen in der Beziehung zur Mutter erlebt haben.

Die Väter spielen da keine Rolle?

Doch! Väter können mit ihrem fürsorglichen Engagement sehr viel auffangen. Ich hatte allerdings eine Frau in der Therapie, deren Mutter arbeiten ging, weil sie mehr verdiente. Der Vater blieb sehr liebevoll engagiert die ersten sechs Jahre zu Hause beim Kind.

Erst danach übernahm die Mutter die Versorgung des Kindes. Diese Frau erkannte für sich, dass sie dennoch einen Riesenmangel an Mutterliebe empfand, was aber, wie sie später bemerkte, eher in der mangelnden seelischen Präsenz, als nur in der fehlenden physischen Präsenz ihrer Mutter seine Wurzel fand.

Von Eifersucht bis Kontaktabbruch

Aber könnte das nicht auch damit etwas zu tun haben, dass das Kind seinerzeit gesehen hat, dass die Rollenaufteilung nicht dem gängigen Familienbild entspricht und mutmaßlich in nahezu allen anderen Familien die Mutter zu Hause war?

Ich beobachte, dass die Verbindung eines Kindes zur Mutter vor allem während der Stillzeit ein Naturereignis ist, die eine sichere Bindung und Urvertrauen schenkt, sofern es Rahmenbedingungen gibt, in der die Mutter sich darauf einlassen kann und auch will.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich habe absoluten Respekt vor den Frauen, die ihre Arbeit lieben und ihr nachgehen wollen und dafür andere Betreuungslösungen finden. Das sehe ich nicht kritisch, sondern habe ich auch selbst gemacht. Es geht einfach darum, ein stabiles Netzwerk in den ersten drei Lebensjahren zu schaffen. Die Menschen, die zu mir in die Therapie kommen, haben oftmals in der frühen Lebenszeit keine stabile Alternative gehabt.

Es fällt vielen Menschen sehr schwer, mutig für ihre seelischen Bedürfnisse einzutreten. Stattdessen gibt es viele Streits, die selten konstruktiv, eher mit Kontaktabbruch enden.
Birgit Haus

Kommen wir noch mal zurück zu den Bindungstraumatisierungen: Wie zeigen sich diese bei Erwachsenen?

Eifersucht kann ein Riesenthema sein. Daran gekoppelt ist eine tiefe Unsicherheit, selbst nicht zu genügen. Auf der anderen Seite fehlt oft die Fähigkeit, dem anderen vertrauen zu können.

Ein anderes verbreitetes Phänomen sind Kontaktabbrüche oder auch modern „On-off-Beziehungen“ genannt. Es fällt vielen Menschen sehr schwer, mutig für ihre seelischen Bedürfnisse einzutreten. Stattdessen gibt es viele Streits, die selten konstruktiv, eher mit Kontaktabbruch enden. Bindungstraumatisierte haben oft nicht das Grundgefühl, um ihrer selbst willen liebenswert zu sein. Sie denken oft, dass sie erst einmal 1000 Bedingungen erfüllen müssten, bevor sie geliebt werden könnten. In Alltagskonflikten führt das oft dazu, dass das eigentliche Problem nicht gelöst werden kann, weil wir auf einmal auf einer Metaebene sind.

Verletzlichkeit wird selten offen gezeigt, stattdessen viel Wut oder manchmal auch Gewalt gegenüber dem Partner, die eigentlich den frühen Bezugspersonen und deren Vernachlässigung gilt.

Wie kann ich als Erwachsener feststellen, dass jetzt gerade mein inneres Kind, also die alten Gefühle, die Oberhand hat und nicht mein erwachsenes Ich?

Das ist meist dann der Fall, wenn wir uns ohnmächtig und komplett ausgeliefert fühlen. Wenn ich mich wie eingefroren fühle, ist das fast immer ein Hinweis darauf, dass ich in einen alten Zustand meiner Kindheit regrediert bin.

Was kann ich dann tun?

Ich kann mich disidentifizieren. Ich kann aufwachen und merken, dass ich in diesem eingefrorenen Zustand emotional gerade mal fünf oder sechs Jahre alt bin. Unterscheiden zu lernen zwischen einem erwachsenen Ich-Bewusstsein und kindlichen Gefühlszuständen ist der Inhalt meiner Inneres-Kind-Seminare.

Wenn das Gefühl von Liebe keinen Bestand hat

Wie können das Betroffene in Konfliktsituationen für sich nutzen?

In derartigen Momenten des Eingefrorenseins kann es hilfreich sein, dem Partner zu sagen: „Hör mal, Schatz, lass uns eine Pause machen. Ich gehe eine Runde spazieren und später sprechen wir weiter.“ Diese kleine Unterbrechung kann dabei helfen, dass sich im Gehirn alles neu sortiert. Mit etwas Abstand können wir ganz anders auf eine Situation schauen und auch eine Lösung finden. Auf der Erwachsenenebene lässt sich dann auch wieder die Liebe zum anderen spüren.

Wenn ich diese Liebe in der Kindheit nicht erfahren habe, dann ist sie doch bestimmt erst mal fremd? Kann das nicht auch Angst machen?

Wissen Sie, was da der Hintergrund ist?

Nein.

Bei Menschen, die das so erleben, gab es unter Umständen schon sehr früh im Leben sehr schmerzliche Trennungen. Sie haben gelernt, dass das wohlige Gefühl keinen Bestand hatte. Wenn diese Menschen im Erwachsenenalter das eigentlich wohlige Gefühl von Liebe bekommen, dann wird gleichzeitig eine Riesenangst auftauchen, diesen Schmerz noch einmal zu spüren. Manche lassen sich dann lieber gar nicht erst auf Beziehung ein. Andere trennen sich lieber wieder, um der Gefahr des erneuten Schmerzes zu entkommen.

Wie lässt sich das Vertrauen in die Liebe wieder aufbauen?

Wir haben in unserem Inneren auch Ressourcen. Diejenigen, die Eltern sind, können sich beispielsweise vorstellen, dass sie mit demselben Engagement, mit dem sie ihren Kindern begegnen, sich auch ihrem inneren Kind zuwenden. Und die Menschen, die keine Kinder haben, können mühelos lernen, sich endlich selbst in ihr eigenes inneres Kind so einzufühlen, wie sie es als Kinder gebraucht hätten.

Welche Rolle spielt da die körperliche Nähe?

Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Frage, denn das ist ein ganz fragiler Punkt. Es gibt Menschen, die sagen: „Ich kann mein inneres Kind nicht sehen.“ Das ist ein Ausdruck dessen, dass da ganz viel Abstand zu sich selbst ist. In diesem Kontext spielt Körperkontakt in meinem therapeutischen Arbeiten eine sehr große Rolle. Ich mache diesen Menschen gerne das Angebot, ihnen eine Hand zwischen die Schulterblätter zu legen. Denn: Alles, was hinter uns ist, verunsichert, das können wir nicht kontrollieren. Über meine Hand im Rücken gelingt es ihnen auf einmal, sich selbst mehr zu spüren und sie können anfangen, den warmen Körperkontakt zu genießen.

Menschen, die sehr von sich selbst abgespalten sind, tun sich oft mit körperlicher Nähe schwer. Eine größere – imaginierte – Nähe zum eigenen inneren Kind kann sehr hilfreich sein, auch echten Körperkontakt in der Partnerschaft besser zulassen zu können.


Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.