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KolumneDie letzten 566 Bücher meines Lebens – Die Qual der Wahl

Lesezeit 3 Minuten
Ein Stapel neuer Bücher liegt auf einem Verkaufstisch in einer Buchhandlung im Frankfurter Stadtteil Bornheim.

Pro Jahr erscheinen etwa 70.000 Bücher neu – das ergibt 1,9 Millionen, bis unser Kolumnist 78 ist. Welche soll er lesen?

Die Fülle an Büchern und die geringe Zeit, sie zu lesen, setzen unseren Kolumnisten unter Druck. Doch wie findet man die besten Auswahlkriterien?

Jüngst drückte mich die Erkenntnis nieder, dass ich kaum mehr als 20 Bücher pro Jahr lese. Mehr schaffe ich einfach nicht, weil die Kinder fiebern, jemand neben meinem Ohr die Straße aufreißt oder mir nach zehn Minuten die Augen zufallen (okay: oder weil ich vor Netflix versackt bin). Das heißt: Sollte ich das Durchschnittsalter von 78,3 Jahren erreichen, bleiben mir bis zum Tod noch 566 Bücher. Das war’s.

Es ist ein erschreckender Wert. Pro Jahr erscheinen etwa 70.000 Bücher neu – das ergibt 1,9 Millionen, bis ich 78 bin. Davon werden also nur 0,03 Prozent auf meinem Nachttisch landen. 0,03 Prozent! Selbst wenn man den ganzen „Die süße Bäckerei am Ende der Dorfstraße“-Blödsinn, die schlimmen Influencer-Schnellschüsse, die 40.000 Regionalkrimis, die liebeskranken Vampire und egozentrischen Köche herausrechnet – es ist zu wenig.

Bill Gates liest nach eigenen Angaben gut 50 Bücher im Jahr. Der deutsche Durchschnitt liegt bei zehn Büchern. Jeder Fünfte liest gar nicht. 80 Prozent der Garnichtleser spielen täglich vier Stunden Candy Crush und ziehen geistig Nebenluft, wie man im Drosselklappenwesen sagt.

Mehr als 20 Bücher pro Jahr sind kaum drin

566 Bücher? Gewiss wird es Lebensphasen geben, in denen ich mehr Zeit zum Lesen habe. Aber das verrechnet sich dann mit den schlechter werdenden Augen. Das normale Lesetempo liegt bei etwa 250 Wörtern pro Minute. Für diesen Text bräuchte man demnach etwa 2,2 Minuten. Ein 200-Seiten-Sachbuch mit 50.000 Wörtern dauert drei Stunden und 20 Minuten netto. In Zehn-Minuten-Häppchen sind das 20 Abende. Gegenrechnung: 365 Tage im Jahr geteilt durch 20 Abende pro Buch sind 18,5. Es bleibt dabei: Mehr als 20 Bücher sind kaum drin.

Das setzt mich massiv unter Druck. Was tun? Entweder, ich reduziere, was ich alles interessant finde. Das ist unmöglich. Ich lese Bücher über alles: Holz, Typografie, die Marx Brothers, Fußball, Pop, Freddie Mercury, New York, die Beatles, Augenheilkunde?… Alternativ könnte ich versuchen, schneller zu lesen. Es gibt allerhand Apps, die einem komplexe Sachbücher in Kurzversion zusammenfassen. I

ch möchte meine Wissensaufnahme aber nicht ökonomisieren. Ich möchte das Lesen genießen dürfen und mich an schönen Sätzen erfreuen, auch wenn sie mich menschlich oder beruflich nicht voranbringen.

Dritte Möglichkeit: Ich bin strenger bei der Auswahl meiner Lektüre. Ich folge nur noch Empfehlungen. Und zwar nicht von Amazon, sondern von Menschen. Und hier kommen Sie ins Spiel. Welches Buch hat Sie zuletzt erfreut? Was sollte ich dringend lesen? Biografie? Geschichte? Popkultur? Technik? Gesellschaft? Konzentrieren wir uns angesichts der Masse auf Sachbücher. Ich freue mich auf Hinweise.

Denn Leuten wie Ihnen, die regelmäßig den Weg in diese kleine Lustgrotte der Leseunterhaltung finden, gehört mein Vertrauen. Schwarmintelligenz – do your magic. Es eilt, wir haben nur noch 28 Jahre. Mit Glück.

Vielen Dank im Voraus und schönes Wochenende!


Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.