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Oh, wie süß!Die düsteren Seiten der Niedlichkeit

Lesezeit 4 Minuten
Illustration: Anime-artiges Bild eines Kindes mit großen Augen

Biologen glauben, dass das Empfinden für Niedlichkeit tief im Menschen verankert ist. Eine Ausstellung in London nähert sich der Kulturgeschichte des Phänomens.

Niedlichkeit ist Teil unseres Alltags. Doch warum sind Kulleraugen, Schmusekatzen und Pandababys so beliebt? Und hat dieser Trend auch eine düstere Seite? Diesen Fragen geht jetzt die Ausstellung „Cute“ im Somerset House in London nach.

Dutzende gerahmte Kätzchen bilden den Auftakt. Weiß und flauschig schauen sie die Betrachterin mit ihren großen Augen an. Der Besucher kann sich ihrer Wirkung kaum entziehen, so süß sind sie. Die von Künstlicher Intelligenz generierten Fellwesen verkörpern damit auch das, was Jonathan Reekie, Direktor des Londoner Somerset House, als die dunkle Seite der Niedlichkeit beschreibt. „Die Niedlichkeit hat sich an uns herangeschlichen wie ein Kätzchen, das nur darauf wartet, sich auf uns zu stürzen”, sagt er.

Von Emojis über Internet-Memes, von Videospielen bis zu Plüschtieren: Niedliche Wesen und Dinge sind Teil unseres Alltags und haben das Internet erobert. Doch warum sind große Kulleraugen, flauschige Kätzchen und süße Babys so beliebt? Und wie wird dieser Effekt genutzt oder gar missbraucht? Diesen Fragen geht die Ausstellung „Cute“ nach, die gerade im Zentrum der britischen Metropole eröffnet wurde. Die leitende Kuratorin Claire Catterall stellt klar: „Niedlichkeit kann vieles gleichzeitig sein, und das macht sie vielleicht auch so mächtig.“

Niedlichkeit kann vieles gleichzeitig sein, und das macht sie vielleicht auch so mächtig.
Claire Catterall, Kuratorin

Im Zentrum der Ausstellung steht eine Ikone der Niedlichkeit schlechthin: Hello Kitty, die Katzenfigur der japanischen Firma Sanrio. In diesem Jahr feiert die Figur ihren 50. Geburtstag, und in der Londoner Schau wird sie mit einer Art Schrein geehrt. Ein knallroter Raum, dekoriert mit Hunderten der weißen Kuschelkätzchen, führt in eine Hello-Kitty-Disco, in der sich eine riesige Spiegelkugel dreht. Aus Boxen an den Wänden tönt verträumte Popmusik, untermalt von Synthieklängen. In einem Regal stehen zahlreiche Hello-Kitty-Artikel. Die Palette reicht vom CD-Player über Geschirr bis hin zum pinkfarbenen Toaster.

Hier geht die Ausstellung auch der Geschichte der japanische Niedlichkeitsästhetik und damit der Kawaii-Kultur auf den Grund. Schon vor mehr als 1000 Jahren hat man darunter zerbrechliche, kleine und verletzliche Dinge und Wesen verstanden. Dies spiegelt sich in der Ästhetik der ausgestellten Manga-Comics unter anderem aus den 1970er-Jahren wider, die Frauen mit übergroßen Augen und kurzen Röckchen zeigen. Diese Darstellungen wirken wie sexistische Männerfantasien, entstammen aber zum Teil der Tradition der Shojo-Manga, die von und für Frauen gezeichnet wurden und sich über Geschlechterstereotypen hinwegsetzten.

Niedlichkeit ist kein Internetphänomen

Dabei räumt die Ausstellung auch mit der Vorstellung auf, die Begeisterung für Niedlichkeit sei ein Internetphänomen. Biologen glauben, dass das Empfinden dafür tief im Menschen verankert ist und Eltern dazu ermutigt, ihren Nachwuchs, wenn er denn besonders süß und drollig wirkt, besser zu schützen. Die sinkende Kindersterblichkeit und der Trend zur Kleinfamilie im 19. Jahrhundert führten überdies dazu, dass die Kindheit als wertvolle Erfahrung angesehen wurde, die Jungen und Mädchen genießen sollten, statt zu arbeiten. Der technische Fortschritt ermöglichte zudem die Massenproduktion von Spielzeug, wie etwa Teddys.

Eines der ausgestellten Beispiele ist die Kewpie-Puppe, basierend auf Zeichnungen der Amerikanerin Rose O’Neill aus dem Jahr 1909. Die Puppe wurde wenige Jahre später zunächst in Deutschland produziert und war dann weltweit das erste bewusst niedlich gestaltete Massenprodukt. Es erinnert mit seiner Frisur an heutige Figuren wie das Baby JJ aus der Kinderserie „CoComelon“ und ebnete den Weg für Hello Kitty und viele andere Kuscheltiere und Fantasiewesen.

Moderner geht es im Obergeschoss zu, wo unter anderem zeitgenössische „niedliche“ Kunst zu sehen ist. Auf fünf sogenannten Plüschinseln werden Aspekte dessen, was wir als süß betrachten, beleuchtet. Hier geht es unter anderem um die manipulative Macht, den Awww-Faktor. Der wird – wie in dem Bild „The Stray“ der US-Künstlerin Margaret Keane – oft durch Tränen verstärkt. Das Bild zeigt ein weinendes Mädchen mit blondem Haar, das eine schwarze Katze in den Händen hält.

Diese Verführungskraft des Niedlichen wird von Unternehmen zu ihren Zwecken aufgegriffen, wie die Schau verdeutlicht. So nutzte der Pharmakonzern Purdue etwa blaue Plüschfiguren als Teil seiner Marketingstrategie für OxyContin. Das Schmerzmittel wurde von 1995 an in den USA als Lifestyle-Medikament angepriesen, das deutlich weniger abhängig machen sollte als andere Produkte, löste jedoch eine Opioidkrise aus.

Ein weiterer Bereich in der Ausstellung mit dem Titel „Hypersonic“ beschäftigt sich mit den futuristischen Erscheinungsformen der Niedlichkeit. Zu sehen sind zum Beispiel überdimensionale Glitzerketten und ein mit Regenbögen, Glücksbärchis und Sternen überladener Frauenschuh. Wenige Meter davon entfernt grinsen dem Besucher und der Besucherin orangefarbene und grüne Plüschmonster entgegen. Sie erinnern daran, dass Niedlichkeit Dinge freundlich und liebenswert erscheinen lassen kann, die sonst als abweichend oder gar bösartig angesehen werden könnten.

Am Ende wirft die Schau Fragen auf: Was bleibt von der Niedlichkeit? Ist alles nur Konsum, Manipulation oder Weltflucht? Müssen wir sie kritischer betrachten? Die Ausstellungsmacher legen eine weitere Interpretation nahe: In einer unvollkommenen Welt ist Niedlichkeit auch eine Anerkennung des Andersseins.


„Cute“ im Somerset House im Zentrum Londons ist bis einschließlich 14. April dienstags bis sonntags zu sehen. Der Eintritt kostet für Erwachsene umgerechnet rund 20 Euro. Weitere Infos unter www.somersethouse.org.uk


Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.