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Psychische ErkrankungenWie ansteckend Depressionen wirklich sind

Lesezeit 4 Minuten
ARCHIV - 13.07.2021, Berlin: ILLUSTRATION - Eine Frau steht in ihrer Wohnung an einem Fenster. (gestellte Szene) Foto: Fabian Sommer/dpa

Negative Denkmuster und Emotionen können ansteckend sein.

Seelische Erkrankungen können sich möglicherweise von einer zur anderen Person übertragen. Wie kommt es dazu – und was sollte daraus folgen?

Eine Erkältung oder eine Grippe kann ansteckend sein. Aber wie sieht es mit Erkrankungen der Seele aus? Natürlich übertragen sich psychische Störungen nicht wie Viren oder Bakterien. Aber könnten sie dennoch in einem gewissen Sinne ansteckend sein? Das zumindest legt eine aktuelle Studie aus Finnland nahe.

Unsere Ergebnisse sind ein Aufruf, die Bedingungen für alle Mitarbeiter zu verbessern.
Carina Lomberg, Psychologin

Darin untersuchten Forschende um den Psychologen Christian Hakulinen von der Universität Helsinki, ob die Existenz von Klassenkameraden mit einer psychischen Störung in der neunten Klasse mit einem erhöhten Risiko für eine eigene psychische Erkrankung im späteren Leben verbunden ist. Hakulinen und sein Team nahmen die Daten von mehr als 700.000 Menschen unter die Lupe, die zwischen 1985 und 1997 geboren wurden, und verfolgten deren Gesundheitsverlauf bis Ende 2019.

Bis zur neunten Klasse hatten fast sieben Prozent der Jugendlichen eine psychische Störung diagnostiziert bekommen. Von den restlichen Schülern und Schülerinnen erhielt ein Viertel nach der neunten Klasse eine solche Diagnose. Entscheidend war, wie viele Schüler und Schülerinnen in der Klasse mit psychischen Problemen zu kämpfen hatten.

Während ein einzelner Klassenkamerad oder eine einzelne Klassenkameradin mit einer psychiatrischen Diagnose das Risiko für eine eigene seelische Störung statistisch nicht erhöhte, stieg das Risiko um fünf Prozent bei mehr als einem diagnostizierten Klassenkameraden oder einer Klassenkameradin. Besonders ausgeprägt war der Effekt im ersten Jahr nach der neunten Klasse. In diesem Zeitraum erhöhte sich das Risiko für eine eigene psychische Störung um neun Prozent, wenn eine Klassenkameradin oder ein Klassenkamerad bereits eine entsprechende Diagnose erhalten hatte, und um 18 Prozent bei mehr als einem oder einer. Besonders stark stieg das Risiko im Falle von Stimmungs-, Angst- und Essstörungen.

Andere Studienergebnisse gehen zum Teil in eine ähnliche Richtung. Laut einer großen US-Untersuchung mit Langzeitdaten geht eine Depression einer Person mit Depressionen ihrer sozialen Kontakte einher. Personen sind der Studie zufolge sogar um 93 Prozent wahrscheinlicher depressiv, wenn jemand, mit dem sie direkt verbunden sind, ebenfalls depressiv ist.

Riskantes Verhalten verbreitet sich leicht

Hakulinen glaubt, dass mehrere Mechanismen hinter der sozialen Ansteckung stecken könnten. So könnten negative Denkmuster und Emotionen ansteckend sein. „Zweitens können sich Verhaltensmuster, insbesondere riskante Verhaltensweisen wie Alkoholmissbrauch und Rauchen, in den sozialen Netzwerken junger Menschen verbreiten.“ In diesen Fällen wären die psychischen Probleme von Personen aus dem eigenen Netzwerk eine Ursache dafür, dass es einem selbst schlechter geht.

Laut Hakulinen gibt es aber noch eine andere Möglichkeit. Gegebenenfalls könne die Hemmschwelle sinken, Hilfe für psychische Probleme zu suchen, wenn es im eigenen sozialen Netzwerk Personen gibt, die bereits Hilfe für ihre Probleme gesucht haben. „Diese Art der Normalisierung von Diagnose und Behandlung könnte als positive Ansteckung von psychischen Störungen angesehen werden.“

Positiv wäre eine solche Ansteckung, weil sie seelische Störungen als etwas Normales erscheinen lässt und ebenso die Suche nach Hilfe. In diesem Fall würde sich nicht die psychische Störung von einer Person auf eine andere übertragen. Vielmehr würde die psychiatrische Diagnose eines Klassenkameraden oder einer Klassenkameradin dazu führen, dass man bei eigenen seelischen Problemen ebenfalls Hilfe sucht.

Sollte man also im Umgang mit Menschen mit psychischen Störungen besser vorsichtig sein, um nicht selbst ähnliche Probleme zu entwickeln? Hakulinen winkt ab: „Ich glaube nicht, dass sich aus unserer Studie eine solche Schlussfolgerung ziehen lässt.“ Menschen mit psychischen Störungen sollten nicht noch mehr stigmatisiert werden, als es ohnehin geschieht.

Soziale Ansteckung im Arbeitsleben

Das gilt ebenso für das Arbeitsleben. Auch hier gibt es Hinweise auf Formen der sozialen Ansteckung. Carina Lomberg von Dänemarks Technischer Universität konnte gemeinsam mit Kollegen und Kolleginnen zeigen: Psychische Störungen wie Depressionen oder Angststörungen können sich durch den Wechsel von Mitarbeitenden zwischen Organisationen ausbreiten. Und zwar, wenn sie von „ungesunden“ Organisationen mit einer höheren Zahl von psychischen Störungen unter den Mitarbeitenden auf neue Arbeitsplätze wechseln. Die Auswirkungen sind besonders stark bei Neueinstellungen in Führungspositionen und bei Mitarbeitenden, die lange in ungesunden Organisationen gearbeitet haben.

Lomberg warnt aber: „Zuallererst sollten Unternehmen unsere Ergebnisse nicht als Ausrede nutzen, um keine Mitarbeiter einzustellen, die zuvor an irgendeiner Art von psychischen Erkrankungen gelitten haben. Wir können das gar nicht genug betonen.“

Zudem habe ihre Studie gezeigt: Das Problem sei das Unternehmen, aus dem die Person komme, nicht die Person selbst. Lomberg und ihr Team möchten letztlich das Gegenteil hervorheben: „Es ist das organisatorische Umfeld, das Menschen leiden lässt“, sagt sie. „Unsere Ergebnisse sind also ein Aufruf, die Bedingungen für alle Mitarbeiter zu verbessern.“


Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.