Wie gut der eigene Orientierungssinn ausgeprägt ist, ist nicht nur eine Frage der Gene: Viel wichtiger ist Training – und zwar von klein auf. Mit bestimmten Strategien gelingt das auch in unserer heute oft unübersichtlichen Welt.
Wissen, wo’s langgehtUnser Orientierungssinn lässt sich trainieren
Die einen finden fast immer auf Anhieb den richtigen Weg, die anderen schlagen oft die falsche Richtung ein. Meist zeigt es sich erst im Jugend- oder Erwachsenenalter, wie es wirklich um die eigenen Navigationsfähigkeiten steht. „Gerade bei diesem Überblickswissen – wenn man nicht unbedingt den genauen Weg, aber die ungefähre Richtung kennt – gibt es riesige Unterschiede“, sagt Tobias Meilinger. Er forscht im Rahmen der angewandten Kognitionspsychologie an der Universität Tübingen dazu, wie Menschen sich in ihrer Umgebung zurechtfinden. Das wiederum hat auch etwas damit zu tun, wie stark der Orientierungssinn bereits in der Kindheit gefordert wird.
„Zwar gibt es einen Unterschied zwischen Männern und Frauen, im Mittel können Männer das etwas besser. Aber die Streuung ist riesig und die Variation zwischen einzelnen Menschen ist um ein Vielfaches größer als der Unterschied zwischen Männern und Frauen“, sagt Meilinger. Er vermutet, dass eine gute oder schlechte Orientierung durchaus mit den Genen zu tun hat – aber auch viel damit, wie gut ein Mensch diese Fähigkeiten trainiert.
Auch Rolf Schwarz, Professor für (Früh-)Kindliche Bewegungsentwicklung, pädagogische Diagnostik und Intervention an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe, sagt: „Bei der Raumorientierung handelt es sich zwar um eine angeborene Fähigkeit. Wie ausgeprägt sie ist, lässt sich einerseits auf die Biologie zurückführen, aber andererseits auch auf eine Umwelt, in der man entsprechend gut oder schlecht gefördert wurde.“
Auch die Umgebung, in der wir aufwachsen, prägt unseren Orientierungssinn – das zumindest legt eine groß angelegte Studie aus 2022 nahe. Demnach haben Menschen, die auf dem Land aufgewachsen sind, im Schnitt einen etwas besseren Orientierungssinn als Stadtkinder. Darüber hinaus zeigte die Studie, dass wir uns in einer Umwelt, die unserer Kindheitsumgebung ähnelt, besser orientieren können als auf völlig fremdem Terrain.
Doch wie lernen Kinder, sich zu orientieren? Schon im Mutterleib beginnen Kinder, sich erstmals im Raum – der Fruchtblase – zurechtzufinden. „Nach der Geburt sammelt ein Kind dann viele neue Eindrücke“, sagt Schwarz. „Es entdeckt zum Beispiel das eigene Kinderzimmer als Nahraum und erlebt nach und nach, dass es verschiedene Räume gibt.“ Mit der Zeit verknüpft es diese zu einem großen Ganzen.
Die erdachte Modellwelt nach und nach ergänzen
Im Grundschulalter entwickelt sich zunehmend ein abstraktes Überblickswissen, bei dem die Kinder beginnen, Räume aus der Vogelperspektive wahrzunehmen. „Das funktioniert aber nur, wenn ein Kind schon vorher Erfahrung mit vielen kleinen Räumen gemacht hat, die sich zusammenfügen zu einer großen und komplexen Landkarte, aus der das Kind sich geistig herauslösen kann“, sagt Schwarz. „Dass ein Kind das beherrscht, zeigt sich etwa dadurch, dass es von der Kita oder einem Spielplatz aus alleine nach Hause findet.“ Von da an kommen weitere und immer größere Räume hinzu, die die erdachte „Modellwelt“ ergänzen.
Allerdings gibt es heutzutage einige Dinge, die es erschweren, dass ein Kind sich gute Navigationsfähigkeiten aneignet. Ein Problem ist die Gestaltung der Umwelt. Um navigieren zu lernen, brauchen Kinder sichere Räume, die sie auf eigene Faust entdecken und bestenfalls mitgestalten können. Insbesondere im städtischen Raum ist das dem Bewegungspädagogen Schwarz zufolge aber nicht gegeben. „Darüber hinaus sind Räume meist sehr zugebaut und durch Verkehrslinien zerschnitten“, sagt Schwarz. Pädagogen und Sozialwissenschaftler bezeichnen das als „Verinselung“: Demnach hängen die Räume in Städten für Kinder nicht mehr zusammen, sondern liegen wie Inseln im Meer und lassen sich nur mithilfe der Eltern oder anderer Erwachsener erreichen.
Anstatt ihre Kinder schrittweise an den Straßenverkehr heranzuführen, entscheiden sich Eltern oft für die sicherere Variante – das „Elterntaxi“: „Sich seine Umgebung einzuprägen gelingt aber am besten, wenn alle Sinne zum Einsatz kommen“, sagt Schwarz. Wenn Eltern und ihre Kinder für kurze Wege oft das Auto, Bus oder Bahn nutzen, reduzierten sich die Sinnesreize. Außerdem fehle Kindern durch eine solche Fahrt der Zwischenraum zwischen Start und Ziel. „Sie fahren sozusagen von einer Blase in die andere, sodass sich geistig eher ein Flickenteppich als ein Gesamtraummodell bildet“, sagt Schwarz. So nehmen Eltern ihren Kindern die Möglichkeit, sich Wege selbst zu erschließen und einzuprägen.
Mit einigen Strategien lässt sich der Orientierungssinn schon in jungen Jahren trainieren. „Eltern sollten dafür sorgen, dass sich ihre Kinder viel draußen bewegen“, sagt Schwarz. „Dadurch werden alle Sinne mehr und auf komplexere Weise aktiviert. Und je mehr und je öfter die Sinne zum Einsatz kommen, desto besser kann das Gehirn das Abbild der Welt konstruieren.“
Außerdem empfiehlt er, Kinder zu ermutigen, einen Weg allein zu finden oder neue Wege zu gehen. „Wenn Kinder Unbekanntes entdecken dürfen, wird der Hippocampus aktiv, der zuständig ist fürs Raum- und Langzeitgedächtnis. Er sorgt dann dafür, dass sich der Raum besser im Langzeitgedächtnis verankert.“
Auch im Erwachsenenalter lässt sich der Orientierungssinn trainieren. Der erste Schritt: Bei einer Fahrt oder einer Wanderung das Navigationsgerät ausschalten und versuchen, selbst den Weg zu finden.
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